Fragen Sie nicht sich

Review #3 – unsere ersten gemeinsamen UNVERGESSLICHKEITEN

WANN WAR IHRE LETZTE UNVERGESSLICHKEIT? Nicht ganz unwahrscheinlich, dass wir sie gemeinsam erlebt haben. Die vergangenen Wochen summten ja nur so vor Unvergesslichem:

 

Einhundert tickende Metronome. Ein Labyrinth aus Klangfarben. Freude, Sehnsucht und göttliche Ekstase, vereint in einer einzigen Oboe. Und schließlich: die Hemisphären unserer Welt, musikalisch auf den Kopf gestellt. Das die Bilanz des neuen Festivals DIE BLAUE WOCHE. Denn Generalmusikdirektor Omer Meir Wellber, Musiker:innen des Philharmonischen Staatsorchesters und einige außergewöhnliche Gäste widmeten sie musikalischen Verwandlungen aller Art.

 

„Wenn Sie nicht wissen, was Sie machen sollen: Lachen!“ Mit dieser Ansage startete der Generalmusikdirektor in Halle 424 das 1. BLAUE KONZERT mit Ligeti und Boulez. Denn darum ging’s: um Klang und Wirkung, das Hören des einen und Erspüren des anderen, erwartungsfrei. Mal ehrlich: Haben Sie das Metronom, das Ihnen am nächsten stand, angehalten?

 

Das 2. BLAUE KONZERT passte sich traumähnlich in die phantastischen Formen des Kleinen Saals der Elbphilharmonie: Benjamin Brittens Six Metamorphoses after Ovid, vermenschlicht in Guilherme Filipe Sousas Oboe, nahm Daniela Huerta in ihre Elektronischen Klang-Metamorphosen auf, zitierte, echote, verformte. Ein Abend der vielstimmigen METAMORPHOSEN, in dem Phantasien Gestalt annahmen.

 

ACHT JAHRESZEITEN. Unter diesem Titel fusionierten VIVALDI UND PIAZZOLLA, Venedig und Buenos Aires, Barock und Tango, Cembalo und Akkordeon, 25 Musiker:innen des Orchesters und ein Gast-Solist, Konzerthaus und Bar, Spaß und Sport, brav und wild, Bühne und Ränge, Sie und wir im Großen Saal der Elbphilharmonie, WELTUMARMEND, LEBENSLUSTBEJAHEND. Wussten Sie da noch, welche Jahreszeit Sie angesichts dieses Wirbelsturms an Emotionen, den das 3. BLAUE KONZERT in uns entfesselte, am meisten lieben sollten? Einer hatte genau das vorhergesehen: In unserem Gespräch erzählte der Mandolinist Jacob Reuven von der besonderen Beziehung zu seinem Instrument und von der Zusammenarbeit mit Omer Meir Wellber. (Hier geht’s zum Interview.)

 

Währenddessen in der Dammtorstraße: ASMIK GRIGORIAN war bei uns am Haus, um noch einmal in ihrer gefeierten Titelpartie der SALOME die Gesetze der Schwerkraft durch die Gesetze der Sprengkraft auszuhebeln. Die Welt – der Oper, Männer, Normen – inmitten von Dmitri Tcherniakovs Häuptergalerie Kopf stehen zu lassen. „Es weht ein Wind …“, witterte Herodes noch, da schlug uns diese Salome schon trotzig ihre Weiblichkeit entgegen, wechselbadend in VERZWEIFLUNG, LIEBE, OHNMACHT. Man hätte einen Schweißtropfen von Jochanaans Stirn fallen hören können, so sehr vergaßen Sie und wir im Publikum zu atmen, während die lettische Sopranistin den Kuss des Propheten besang.

 

Während das Hamburg Ballett auf seiner Gastspielreise in Baden-Baden tanzte, war WOLFGANG KOCH zum ersten Mal in Calixto Bieitos Inszenierung als Verdis FALSTAFF zu erleben. Sie aber betraten das Eingangsfoyer und sahen sich halbnackten Gestalten gegenüber: an einer langen Tafel sitzend, seltsam acht- und lustlos Austern und Spaghetti schlürfend. Und Sie fragten sich … Moment mal! Sie fragten SICH!?

 

Fragen Sie nicht sich – fragen Sie das nächste Mal unsere FRAMING GUIDES. Sie wissen eine Menge. Vor allem über die Inszenierung, wegen der Sie gekommen sind. Sie finden sie vor, während und nach den Repertoirevorstellungen in allen Foyers. Sie erkennen sie an ihren weißen Pullundern und ihrem offenen Blick. Auf den Pullundern steht FRAMING the REPERTOIRE. Fragen Sie zuallererst, was das bedeutet, dieses Rahmen unserer wiederaufgenommenen Produktionen. Und warum das originale Programmheft einen neuen weißen Umschlag trägt.

 

Übrigens: Man muss sie wirklich gut im Auge behalten, diese REPERTOIREVORSTELLUNGEN, denn so schnell sie auf dem Spielplan erschienen sind, so rasch verschwinden sie auch wieder. Zur letzten Vorstellung aber – davor, in der Pause oder danach – wird kontextualisiert. In Vorträgen und Gesprächen in der FRAMING HALL – einer feinen, kleinen, ungewöhnlichen Bühne im 2. Rang Foyer – ENTSTEHEN BRÜCKEN: zwischen der Zeit der Uraufführung, der Inszenierung und der Wiederaufführung im Heute.

 

Anlässlich der letzten Vorstellung von Falstaff war zum Beispiel Podcasterin, Autorin und Plus-Size-Model JULIA KREMER zu Gast, um über das gesellschaftsstrukturelle Problem von Scham einerseits, das Learning von Body Positivity andererseits und ihre Kampagne #RespectMySize zu sprechen. „Jeder Mensch hat Sichtbarkeit verdient“, sagte Julia und schob Akzeptanz und Selbstmitgefühl in dessen Zentrum. „EMPATHIE IST DER SCHLÜSSEL FÜR GANZ VIELES.“

 

Und apropos Empathie … Sie erinnern sich vermutlich an einen der allerersten unvergesslichen Momente mit uns im Großen Haus: DAS PARADIES UND DIE PERI, Robert Schumanns weltliches Oratorium um ein vom Himmel gefallenes engelsgleiches Wesen, das den Wiedereintritt ins Paradies durch die menschliche Gabe der Empathie erlangt? Wir haben die Sängerin der Peri, VERA-LOTTE BOECKER, getroffen. Und was hat sie gesagt? „Ich singe um mein Leben.“ (Hier geht’s zum Interview.)

 

Und auch der Generalmusikdirektor stand uns Rede und Antwort: „Die beste Così-Produktion, die ich je gemacht habe“, schwärmte Omer Meir Wellber. Die Verbindung zwischen ihm und Mozarts Dramma giocoso COSÌ FAN TUTTE ist eine besondere – und genau das macht unsere Wiederaufnahme von Herbert Fritschs Inszenierung zu einem echten Erlebnis. (Hier geht’s zum Interview.)

 

Zeit für das letzte Wort in diesem Review #3. Jacob Reuven erhält es, mit der vielleicht unvergesslichsten Unvergesslichkeit der vergangenen Wochen: „Die Mandoline ist immer für Sie da“, sagt der Künstler über sein Instrument. „Sie wird Sie nie enttäuschen. Man legt den Finger auf die Saiten, und sie versucht, den besten Klang zu erzeugen, den sie zu bieten hat. Das ist ein Verhalten, von dem ich mir wünschte, die Menschheit würde sich daran ein Beispiel nehmen. Denn es ist WUNDERSCHÖN.“

 

Hamburg, 17. Oktober 2025

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