Im Tornado der Emotionen

ACHT JAHRESZEITEN. Unter diesem Titel fusionieren am 12. und 13. Oktober 2025 im Rahmen des 3. Blauen Konzertes der BLAUEN WOCHE zwei musikalische Welten: Antonio Vivaldis berühmtes Violinkonzert Die vier Jahreszeiten und Astor Piazzollas lateinamerikanische Antwort darauf:  Las cuatro estaciones porteñas. Im Gespräch erzählt der Mandolinist Jacob Reuven von der besonderen Beziehung zu seinem Instrument und von der Zusammenarbeit mit Omer Meir Wellber, der im Großen Saal der Elbphilharmonie nicht nur das Philharmonische Staatsorchester dirigiert, sondern im gemeinsamen Arrangement auch an Akkordeon und Cembalo zu erleben ist.

 

Sie sind stets auf Tournee, von einem Tag zum nächsten in verschiedenen Städten, verschiedenen Ländern ... In Ihrem Gepäck: Ihre Mandoline, Ihre Musik. Haben Sie sich so Ihr Leben im Jahr 2025 vorgestellt?

Jacob Reuven: Tatsächlich ja. Als Kind war ich schon immer fasziniert vom künstlerischen Leben und den Künsten, insbesondere von Malerei und Ballett. Mein Traum war es, mich auf irgendeine Weise künstlerisch zu betätigen, und zu meinem Glück entdeckte ich die Mandoline, sie wurde meine Art des künstlerischen Ausdrucks, meine Art zu malen.

 

Wie sind Sie zum Mandolinenspiel gekommen?

Jacob Reuven: Ich bin in einer sehr kleinen Stadt im Süden Israels aufgewachsen. In der Wüste gab es keine Konzerthalle, es gab nichts außer einem Konservatorium mit einem fantastischen Mandolinenorchester und einem sehr, sehr charismatischen Dirigenten. Meine Mutter wünschte sich eine bessere Ausbildung für mich, also ging sie zu diesem Dirigenten – einem sehr strengen Professor – und sagte: Ich möchte, dass er Musik macht. Seine Aufgabe war es also, mich dazu zu bringen, dass ich mich besser benahm. Ich aber war sechs Jahre alt und glücklich: Ich kann Musik machen! Die ersten drei Jahre machten keinen Spaß, ihm nicht und mir auch nicht. Ich war nie pünktlich, nie vorbereitet, nie höflich. Aber mit der Zeit zeigte er mir den Weg in die klassische Musik, er brachte mir Schachspielen bei, erzählte mir viel über Kunstgeschichte, über Stanislavski und Tschaikowski ... Das war für mich eine Welt voller Klänge, Farben und Geschichten! Und ich sog alles in mich auf. Ihn als mein Idol zu haben, das war mein großes Glück. Sein Name war Simha Natanzon – eine ausgesprochen interessante Persönlichkeit.

 

Und an diesem Konservatorium lernten Sie Omer Meir Wellber kennen?

Jacob Reuven: Genau. Die beiden wichtigsten Instrumente in diesem Konservatorium waren die Mandoline und das Akkordeon. Also spielte ich Mandoline und Omer Akkordeon. Omer und mein jüngerer Bruder waren gute Freunde, spielten immer Duette und erfanden Piazzolla-Arrangements für zwei Akkordeons. Später trafen wir uns an der Jerusalemer Musikakademie wieder, wurden richtig gute Musikfreunde. Es war nicht leicht, ein Orchester zu finden. Also nahm sich Omer die Orchesterstimmen vor und improvisierte darüber aus dem Stand auf dem Akkordeon. Was für ein Genie.

 

Nun sind es Vivaldis Quattro Stagioni. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, mit einem so berühmten Stück umzugehen? Jeder im Publikum kennt es und liebt es in seiner Originalfassung für Violine.

Jacob Reuven: Das ist eine sehr gute Frage. Die vier Jahreszeiten sind das berühmteste und am häufigsten aufgeführte klassische Musikstück, das je geschrieben wurde. Also versucht man als Erstes, etwas Frisches, etwas Neues zu schaffen und seine eigene Stimme einzubringen. Die Mandoline hat ihren eigenen Klang, ihren „Neue-Welt“-Sound. Dadurch entsteht ein großer Kontrast zwischen dem Orchester – und der Violine, die traditionell dazugehört – und der Mandoline. Dies schafft eine neue Klangfarbe. Man muss sehr, sehr neugierig, mutig und ehrlich sein bei solchen Arrangements. Genauso wie man möchte, dass die Mandoline wie die Violine glänzt.

 

Wie also gelingt Ihnen das? Wie übersetzen Sie Vivaldi?

Jacob Reuven: Was Vivaldi betrifft, ist das ziemlich faszinierend, weil es sich hier um eine Musik der Repetitionen handelt, Sequenz für Sequenz. Und die Mandoline ist ein repetitives Instrument. Sogar die Saiten sind doppelt. Als repetitives Instrument, um repetitive Musik zu spielen, bringt die Mandoline also einen gewissen Vorteil mit sich. Jetzt heißt es nur, die Grenzen des Instruments und seiner Technik auszuweiten. Abgesehen davon ist die Mandoline sehr italienisch. In vielen Sätzen, insbesondere den ruhigeren und langsameren, klingt das Tremolo der Mandoline vertraut aus neapolitanischen Liedern, in gewisser Weise also wie aus der Welt Vivaldis. Da man den Originalnoten des Komponisten dabei so treu wie möglich bleiben möchte, entsteht eine Spannung.

 

Auf der anderen Seite steht Piazzolla mit seiner Buenos-Aires-Version der Vier Jahreszeiten.

Jacob Reuven: Piazzola erfordert eine ganz andere Arbeitsweise. Es steckt nicht im Material, man bekommt keine Anweisungen aus den Noten, vielmehr lernt man aus Aufnahmen, aus Arrangements. In unserem Fall handelt es sich um die Version, die für Violine und Orchester geschrieben wurde. Ich versuche, freier zu sein und mich von Piazzollas Version zu lösen, um dieser Geiger in der Piazzolla-Gruppe zu sein und eine neue Version dieser Tango-Umgebung zu schaffen.

 

Jetzt haben wir also einerseits die repetitive Barockmusik und andererseits den Tango. Beide von Ihnen für die Mandoline arrangiert. Wie nun verschmelzen diese beiden Welten in Ihrem Konzert Acht Jahreszeiten?

Jacob Reuven: Wir wollen Geschichtenerzähler sein, die alle Räume durchstreifen, um eine Fülle von Material einzufangen, das ursprünglich aus der Welt von Piazzolla stammt, und es in Vivaldi einfließen zu lassen. Wir fügen Vivaldis Continuo ein Akkordeon hinzu. Und Piazzolla ein Cembalo, was den Piazzolla in gewisser Weise zu einer Version des frühbarocken Tangos macht. Beides kreiert eine andere Farbe aus einer anderen Welt. Die Fusion entsteht also durch die Instrumentierung und das Arrangement. Wie in einem Gespräch. Und ich werde nie dasselbe spielen wie beim letzten Konzert, es ist immer Improvisation, ich werde die Akkorde nie auf die gleiche Weise spielen. Ich werde immer versuchen, Grenzen aufzuweichen. Das Feeling, das Tempo, das Gefühl für Bewegung, all das muss fast wie bei einer Bar Band funktionieren. Damit alles lebendiger ist als in einem Konzert einer einzigen Jahreszeit.

 

Was ist mit der Geschichte der Jahreszeiten? Sie beginnen mit Vivaldis Winter, gefolgt von Piazzollas Winter und so fort.

Jacob Reuven: … und Sie wissen, dass der Winter von Vivaldi ein ganz anderer Winter ist als der Winter von Piazzolla. Man hört ihn und sagt: Wow, die Größe der Schneeflocken ist anders, das Gewicht des Sauerstoffs, es weht ein anderer Wind ... Ich denke, das spürt man am Klang.

 

Wie aber reagiert das Publikum?

Jacob Reuven: Zunächst einmal sind alle skeptisch, dass da eine Mandoline die Violine ersetzen soll: Wie sollte das mit einem so kleinen Instrument von einem so leisen Klang möglich sein? Doch bereits in dem Moment, in dem die Mandoline mit der Winterpassage einsetzt, zieht sie das Publikum in ihren Bann. Die Klangfarbe, die wir in diesem allerersten Ton erzeugen, unterscheidet sich von dem, was alle seit Jahren zu hören gewohnt sind. Sie ist gelb, nicht rot. Schon sind alle Zweifel am Arrangement verschwunden. Tief tauchen die Zuhörer:innen ein. Um sich dann, Jahreszeit für Jahreszeit, in einem Wirbelsturm der Gefühle wiederzufinden. Am Ende des Konzerts sehen Sie, dass das Publikum diese Reise akzeptiert und genossen hat. Die Leute kommen und sagen: Wow, wir waren wie in einer anderen Welt. Und genau das ist unsere Mission, unser Statement: diesen schillernden, berühmten Stücken, die jeder kennt, eine neue Klangfarbe zu geben. Diese Reise ist wichtig, nicht nur für meine Stimme als Künstler, sondern auch für das Instrument. In einem derart berühmten Stück wird die Mandoline noch lange Zeit glänzen.

 

Vermutlich gibt es nichts, das Ihnen näher steht als Ihr Musikinstrument. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Ihrer Mandoline beschreiben?

Jacob Reuven: Ich kann nicht aufwachen, ohne jeden Tag zwei oder drei Sätze aus Bachs Sonaten und Partiten zu spielen. Vor allem anderen mache ich meine Übungen. Das ist mein Morgen, meine tägliche Nahrung.

 

… wie Kaffee und Croissant?

Jacob Reuven: Sogar noch besser! Abgesehen davon habe ich festgestellt, dass meine Mandoline immer für mich da sein wird. Selbst an Tagen, an denen Sie nicht so konzentriert sind, nicht so präzise auf dem Instrument spielen, die Intonation nicht so gut ist und Sie innerlich unruhig sind: Die Mandoline ist immer für Sie da. Sie wird Sie nie enttäuschen. Man legt den Finger auf die Saiten, und sie versucht, den besten Klang zu erzeugen, den sie zu bieten hat. Das ist ein Verhalten, von dem ich mir wünschte, die Menschheit würde sich daran ein Beispiel nehmen. Denn es ist wunderschön.

 

Das Gespräch mit Jacob Reuven führte Teresa Grenzmann am 9. Oktober 2025.