„Ich singe um
mein Leben“

DAS PARADIES UND DIE PERI, ein weltliches Oratorium von Robert Schumann. Noch bis zum 1. November ist die Sopranistin Vera-Lotte Boecker in der Titelpartie zu erleben. Im Interview verrät sie, inwiefern uns der gefallene Engel Peri Mitmenschlichkeit lehrt, was die Auflösung der Vierten Wand für sie bedeutet und warum sie sich als Sängerin in der Inszenierung von Tobias Kratzer auch mal überwältigen lassen darf.

 

Mit Bedacht hat Tobias Kratzer zum Spielzeitauftakt den Liederkomponisten Schumann mit seinem kaum gespielten weltlichen Oratorium gewählt und eben nicht die große, weltbekannte Oper.

Vera-Lotte Boecker: Für mich ist wichtig: Ist es eine spannende Figur, die etwas zu erzählen hat, das mich wirklich interessiert? Und das ist die Peri zu einhundert Prozent! Außerdem ist es eine Musik, die mich bewegt. Wenn das gegeben ist, dann tue ich mein Bestes, um es technisch bestmöglich zu singen. Natürlich merkt man, dass es ein Oratorium und Schumann ein Liederkomponist ist. Die sängerische Vorbereitung war tricky, es ist teilweise sperrig, sitzt dann auch sperrig im Hals. Also habe ich intensiv geübt, damit es sich bei den Proben schon wie eine zweite Haut anfühlt.

 

Die Peri ist ein Chorstück – er spielt inhaltlich eine wichtige Rolle und dementsprechend auch inszenatorisch. Es gibt Momente in dieser Inszenierung, da stehst du buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, vor dir der gesamte Chor, und nun singst du gegen diese vielen Stimmen an, über diese vielen Stimmen hinweg bis ins Publikum. Ist das eine besondere Herausforderung für dich … oder etwas richtig Schönes?

Vera-Lotte Boecker: Es ist was richtig Schönes. Da sind diese Wahnsinnsenergien, die entstehen, wenn der ganze Chor singt, das ganze Orchester spielt und dann auch ich noch dazu singe! Inszenatorisch sind dies die Momente, in denen es emotional so zur Sache geht, dass ich mich als Sängerin einfach reinfallen lasse in diese übergroßen Emotionen. Ich denke nicht mehr. Ich stehe da, mit Blut übergossen, um mich herum ist dieser Wahnsinnklang … und ich singe dann einfach um mein Leben! Ich gehe auf in dem Entsetzen der Figur, der Peri: als alles für sie zusammenbricht und der Himmel dekonstruiert wird. Ich singe als Peri nicht gegen den Chor, die Energien verbinden sich. Es ist ein großes Bild, was entsteht, und ich bin mittendrin. Ich lasse mich als Sängerin überwältigen, weil die Figur in diesen Momenten auch überwältigt ist. Maria Callas sagte, mit heißem Herz und kühlem Kopf müsse man singen. Und das ist sehr, sehr wahr. (Lacht.) Ich bin jemand, der ein sehr heißes Herz mitbringt und der sich immer wieder an den kühlen Kopf erinnern muss. Es gibt andere Szenen, da muss der Kopf die Führung bewahren. Aber in den großen Chormomenten darf ich es mir erlauben, dem Herzen nachzugeben, loszulassen und mich ganz in diese Szenen fallen zu lassen.

 

Eine andere Besonderheit in dieser Inszenierung ist – für dich wie für die Zuschauenden, Zuhörenden – die Auflösung der Vierten Wand. Du gehst – ohne zu viel verraten zu wollen – auf Tuchfühlung mit dem Publikum, dir werden Hände entgegengestreckt, die dich stützen. Was für ein Gefühl ist das für dich?

Vera-Lotte Boecker: Es ist so schön, wenn das Publikum strahlt und sich darüber freut, dass auf einmal diese Vierte Wand nicht mehr da ist. Es ist ein unglaubliches Erlebnis, weil es so ist, als würde das Publikum singen. Und das Publikum bin ich. Und das Publikum sind alle Sängerinnen und Sänger. Und ich versuche so allumschließend zu singen, dass alle Wände fallen in diesem Moment. Denn das ist die fundamentale Aussage in diesem Stück der Empathie und der Heilung, der Hoffnung, die uns alle verbindet, die unser aller Traum ist. Wenn es gut läuft und das Publikum dabei ist, dann ist das der Höhepunkt des Abends für mich.

 

Was bedeuten der Peri ihre Flügel? Warum will sie sie auf gar keinen Fall hergeben?

Vera-Lotte Boecker: Für mich, wie ich die Rolle anlege, sind die Flügel eine Erinnerung an unser wahres, eigentliches Selbst. Wir fangen alle an als die tollsten, liebsten, wunderschönsten Wunder überhaupt. Dann bricht das Leben über uns herein mit all seinen Herausforderungen und auch Schrecklichkeiten. Wir haben aber diese Erinnerung in uns, wer wir in Wahrheit sind unter den ganzen Narben und Panzern und Kostümen. Und genau das sind die Flügel, sie sind Peris Erinnerung. Das Zuhause, nach dem sie sich sehnt, ist unser innenwohnendes Gutsein. Vielleicht haben wir es vergessen, aber wir alle haben dieses Gutsein in uns – diese Aussage des Stückes ist eine sehr große, gerade heutzutage. Und wir besitzen diese Sehnsucht, zurückzukommen in die Mitmenschlichkeit, Empathie, Liebe, in das, was wir eigentlich sind, was wir eigentlich mal waren. In das, was man in jedem Babyauge sofort sieht. Diese Sehnsucht ist letztendlich das, was die Peri durchs Stück treibt. Genauso wie Tobias uns die Erlösung durch den Aufstieg in den Himmel klug vorenthält, den Himmel dekonstruiert, so zeigt der Pfeil auch in der Realität auf uns zurück. Die Erlösung wartet nicht im Himmel – sie ist in uns, in unserem Sein, in der Sehnsucht nach unseren Flügeln.

 

Und die Oper ist der Ort, an dem wir eine solche Empathie wiederfinden, weil wir dort …

Vera-Lotte Boecker: … so sehr mit unserem Herzen dabei sind, genau.

 

Sind denn alle Arten von Gefühlen im Zuschauerraum der Oper erlaubt?

Vera-Lotte Boecker: In der Oper ist alles erlaubt. In der Oper können wir auch mit Monstern Mitgefühl empfinden, das ist eine ihrer ganz großen Qualitäten. Wir erleben einerseits das klassisch Kathartische: Indem wir die Gefühle mitfühlen, lösen sie sich auch ein Stück weit in uns und wir können mitweinen. Wir können, wenn Mimi stirbt, unsere eigene Sterblichkeit beweinen. Aber wir können uns auch an die Sterblichkeit erinnern und daraus folgern: Was heißt das jetzt für mich? Und das finde ich so schön an Peri: Dass es nicht nur ein Versinken in diesen Emotionen ist. Sondern der Pfeil zurückzeigt: Was heißt das eigentlich für uns hier und jetzt? In seiner Inszenierung geht Tobias diesen Schritt weiter und fragt sozusagen nach der Konsequenz der Gefühle, den Erkenntnissen für unser Handeln heute. Es ist genau das, denke ich, was Oper sein soll: keine verstaubte Kunstform, sondern ein vitaler Teil der Welt und der Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie heute ist.

 

Das Gespräch mit Vera-Lotte Boecker führte Teresa Grenzmann am 13. Oktober 2025.