Das sehen Sie richtig
Wann wurden Sie das letzte Mal gesehen? Sie wissen schon, so richtig gesehen: MIT WACHEN AUGEN, KLOPFENDEM HERZEN, OFFENEN OHREN … Wie war das? Fühlten Sie sich angenehm verstanden?
Und wie geht das eigentlich, dieses richtige Sehen? Ohne HINSCHAUEN geht natürlich gar nichts. Außerdem müssen Sie wissen, wohin Sie schauen müssen.
Es gibt sie, die Fälle, Menschen, Zeiten, da weiß man ganz genau, wohin man schauen muss. Und dann gibt es die Situationen, in denen man MITEINANDER IN DEN AUSTAUSCH GEHEN muss, will, möchte. Um hinter die Kulissen, über den Tellerrand oder sogar: der Wahrheit ins Auge schauen zu können. Um richtig sehen zu können. Um verstehen zu können.
Auch wir führen diese wichtigen Auseinandersetzungen natürlich. Täglich. UND SIE MIT UNS GEMEINSAM. Wann immer Sie mögen. Welche Stoffe bringen wir auf die Bühne, um diese für Sie und uns im Heute zu befragen? Welche Persönlichkeiten sollen sich künstlerisch mit ihnen beschäftigen, welche Handschriften sollen sie tragen? Sind Sie als Publikum voller Vorfreude oder haben Sie Bedenken? Was fühlen Sie während der Vorstellung, WAS NEHMEN SIE MIT?
Zum Beispiel DIE KLEINE MEERJUNGFRAU: Im Märchen genau wie in John Neumeiers Ballett von 2005 mit Musik von Lera Auerbach träumt sie davon, richtig gesehen zu werden. Als Retterin. Um geliebt zu werden, eins mit der Welt der Menschen, die sie als vollkommen ansieht. Wie verlassen Sie diesen verzaubernden Abend? Was ist Ihr und nur Ihr individueller Ansatz, um Andersens Ende zu akzeptieren?
Und apropos Märchen: 1842, zehn Jahre nach Donizettis komischer Barockoper L’Elisir d’Amore, die Sie übrigens vom 20. Dezember an auf unserem winterlichen Spielplan finden, fantasierte der russische Komponist Michail Glinka eine eigenwillige Zauberoper herbei, in die er all seine musikalischen Erfahrungen VON BELCANTO BIS FOLKLORE einfließen ließ.
Auch hier ein Gruß an alle, die gern genau hinschauen. Machen Sie sich den Spaß, aus Ruslan und Ljudmila all diese Anlehnungen, aber auch: Vorausgriffe herauszuhören. So hat es Azim Karimov gemeinsam mit dem Philharmonischen Staatsorchester getan. Darüber, über seine Arbeit an der Oper, die am 9. November in der Inszenierung von Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka als EMANZIPATIONSERZÄHLUNG EINER JUNGEN GENERATION Premiere feiert, und über Glinkas Einflüsse erzählt der Dirigent in unserem Interview … in unserem nächsten Review #5.
Klar, dass in diesen Zeiten viele Fragen zur Aufführung einer russischsprachigen Oper nach Puschkin aufkommen. In den vergangenen Tagen lasen wir sie auf Social Media, hörten sie in unseren Veranstaltungen. WIR NEHMEN SIE WAHR, SCHAUEN HIN, gehen mit Ihnen in den Austausch. Auf dem Weg zu einem richtigen Sehen, einem Verstehen.
Denn: „WORAUS BAUT SICH IDENTITÄT? Auch aus der Vergangenheit. Aber sie darf niemals Instrument der Macht sein.“ So Katja Gloger in unserem taufrischen Podcast-Format Politische Perspektiven in der opera stabile. Für Folge #1 sprach Staatsopernintendant Tobias Kratzer mit der Journalistin über Russland und Europa, Putin und eine auf kriegerischen Patriotismus getrimmte Kultur in immer enger werdenden Räumen.
„Was haben Politische Perspektiven an einem Opernhaus zu suchen?“, eröffnete der Intendant den Abend. „Sie sollen Fragen stellen, die das Werk selbst nicht beantworten kann.“ Für Katja Gloger bedeutet das in Hamburg: „Es ist wichtig, Ruslan und Ljudmila zu zeigen, zu debattieren. Und auch die Widersprüche zu spiegeln, die Zweifel, DIE ZWISCHENTÖNE. Manchmal gibt es einfach keine eindeutige Antwort. Wir suchen festen Boden – und stehen doch auf schwankendem Grund.“ (Die gesamte Podcast-Folge können Sie hier nachhören.)
Auch ein brandneues Gesprächsformat in unserer Reihe CLICK in – communities feierte in den vergangenen Tagen in der opera stabile seinen Auftakt: Auf dem Podium von Heimat(-verlust) und Exil trafen sich ukrainische Gäst:innen, um gemeinsam mit Staatsoperndramaturgin Katinka Deecke darüber zu sprechen, wie in Zeiten des russischen Angriffskriegs UKRAINISCHE KUNST UND KULTUR IN DEUTSCHLAND sichtbar sein und bleiben kann. Ein unglaublich schwieriger Prozess, wie die Kurator:in und Autor:in Maria Vtorushyna betonte, weil die Unterstützung der geflüchteten Künstler:innen nicht nur vorübergehend, sondern von Dauer sein müsse.
„Warum brauchten wir einen Krieg, um die vielfältige Kunst der Ukraine im Westen bekannt zu machen?“, fragte Dr. Iryna Tybinka, ukrainische Generalkonsulin in Hamburg. „Ich wünsche mir SOLIDARITÄT IN FORM VON AUFMERKSAMKEIT, in Form von Entdeckungslust in Hinblick auf die ukrainische Kunst.“ So der in Berlin lebende Musiker, Produzent und Autor Yuriy Gurzhy. „Für die Zeit, in der wir Ukrainer gerade leben, fehlt mir ein Wort in allen Sprachen, die ich spreche.“
Im Großen Saal der Elbphilharmonie wurde derweil zum zweiten Mal Musik zu einer Brücke: Wie aus einer längst verblichenen Welt – so flackerte in AZIZA SADIKOVAS ÜBERSCHREIBUNG des zweiten und dritten Satzes immer wieder die Symphonie Nr. 4 f-Moll Peter Tschaikowskys auf, als hätte ein Wind den Klang der Vergangenheit herbeigetragen. In einem erfindungsreichen Spiel „mit dem KONZEPT VON ZEIT UND ERINNERUNG“ begegnete die zeitgenössische Komponistin ihrem Lieblingskomponisten aus Kindheitstagen, ließ auch uns ihn durch ihre Augen neu sehen, in ihrer Handschrift neu verstehen. Im so erzählerischen wie furiosen ZeitSpiel des 2. Philharmonischen Konzertes, dirigiert von Holly Hyun Choe.
Auch auf dem Heimat(-verlust)-Podium der opera stabile beeindruckte eine Dirigentin: Nataliia Stets hatte – was für ein Geschenk – die Reise von Kiew auf sich genommen, um uns als BOTSCHAFTERIN DER UKRAINISCHEN MUSIK zu begeistern und über den Alltag in ihrer Heimatstadt zu berichten. „Even in times when silence is gone, when bombs are falling, we perform every day at the National Philharmony.“
HINSCHAUEN. AUSTAUSCHEN. RICHTIG SEHEN. Und dabei versuchen zu verstehen.
„The culture of our country is the voice of our country”, sagt Nataliia Stets, “and as long as we are talking, we are alive.“