ZeitSpiel Drei

Wunderhorn und Wirklichkeit

von Janina Zell

Als „mehr Natur und Leben“ denn „Kunst“ beschreibt Gustav Mahler (1860–1911), was ihm in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn zur künstlerischen Inspiration wurde. Die Authentizität und der Freiraum zur Gestaltung, Verdichtung und Ironisierung sprachen ihn als Komponisten an und wurden zur Quelle für sein Liedschaffen ebenso wie für seine Symphonien und die Verwebungen zwischen diesen beiden in seinem Schaffen ebenbürtigen Gattungen.

Die verschiedenen Gedichte hatten Anfang des 19. Jahrhunderts Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammengetragen aus ihren eigenen Kindheitserinnerungen, Almanachen, alten Drucken und mündlichen Überlieferungen. Sie stehen für den romantischen Geist und das Bedürfnis, sich von der intellektuellen Gedankenwelt zu distanzieren zugunsten der Volkspoesie. Ihre Sammlung inspirierte einige Komponisten: von Weber, Mendelssohn, Schumann, Brahms – Mahler aber verschrieb sich ihr nach eigener Aussage „mit Haut und Haar“.

 

Zwischen Theater und Komponierhäuschen

Nachdem er schon einige Klavierlieder mit Wunderhorn-Texten geschrieben hatte, begann Mahler 1892 in seiner Zeit als Erster Kapellmeister am Stadttheater Hamburg mit dem Konzept, seine Lieder für Klavier zugleich in eigenständiger Fassung für Orchester zu kreieren. Die ersten fünf „Humoresken“ (wie Mahler sie nennt), darunter „Wer hat dies Liedel erdacht?“ und „Trost im Unglück“ entstanden parallel zu seinen dirigentischen Verpflichtungen. Der Begriff „Humoreske“ meint bei Mahler auch Umkehrung: das Nebensächliche wird zum Wesentlichen. Ein Blick in die Liedtexte verdeutlicht diese Bedeutung.

Alle weiteren Wunderhorn-Lieder schrieb er fortan parallel zu seinen symphonischen Projekten in den Sommerpausen des Theaters an idyllischen Orten wie dem Attersee, in seinem sogenannten „Komponierhäuschen“. Dort entstanden 1893 „Des Antonius von Padua Fischpredigt“, „Das irdische Leben“, „Rheinlegendchen“ und „Urlicht“. Im Sommer 1896 folgte „Lob des hohen Verstands“ aus sehr pragmatischen Gründen: Mahler musste Zeit überbrücken, weil seine Skizzen zur dritten Symphonie in Hamburg lagen, während er bereits am Attersee weilte.

Mahler war sehr darum bemüht, seine Stücke unter den Menschen zu verbreiten. So erbat er für seine Klavierlieder Freiexemplare, um sie an „möglichst viele Sänger“ verteilen zu lassen. Die unterschiedlichen Charaktere seiner Lieder lassen die Vermutung wagen: Jeder Mensch könne sich darin wiederfinden oder davon angesprochen fühlen. 

Musikalisch spannt er einen weiten Bogen von Tanzlied und Marschmusik über Volksweisen bis zu Anklängen aus dem Konzert- und Opernrepertoire. Für „Wer hat dies Liedel erdacht?“ ließ er zwei Gedichte zu einem Ländler verschmelzen. Sein „Lob des hohen Verstands“ ist eine Parodie durch und durch: Posaune und Tuba unterstreichen, dass der Gesang von Nachtigall und Kuckuck sich nur für „Eselsohren“ unterscheidet. Die Kritik am Kunstverstand seiner Zuhörer und Kritiker liegt nahe. In der Reinschrift seiner zweiten Symphonie beispielsweise notierte Mahler neben den Quintparallelen des Scherzos: „Sind verboten! Ich weiß! (Anmerkung für Preisrichter).“

Auch mit „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ widmet er sich der Parodie, diesmal auf die Unbelehrbarkeit der Menschen. Trotz plastischer Darstellung mit Rute und drei Fagotten, die „mit Humor“ von der Klarinette verspottet werden, fürchtete Mahler: „Die Satire auf das Menschenvolk darin werden mir aber die wenigsten verstehen.“

Das „Urlicht“ hingegen schwebt uns wie aus einer anderen Welt entgegen: Der poetische Titel verweist auf die Lichtsymbolik der Schlussverse. Mahler unterlegt diesem Sterbelied einen Choral, ganz ohne Ironie. Die eröffnende Metapher „O Röschen rot!“ steht dabei für das Leiden Christi (man denke an „Es ist ein Ros entsprungen“).

 

Der Klang der Verlorenen

Unter den von Mahler vertonten Gedichten finden sich auffallend viele aus dem militärischen Umfeld. Immer wieder wurden Überlegungen angestellt, woher Mahlers Interesse daran rührte. Vielleicht waren es die Eindrücke seiner Kindheit und Jugend im mährischen Iglau mit seiner Kasernenwelt? Oder visionierte er die Schrecken des 20. Jahrhunderts? Die Frage bleibt offen, warum gerade Mahler sich so intensiv mit Themen wie Leid, Trennung, Tod und Hinrichtung im Krieg beschäftigte. Er selbst war wegen seiner Kurzsichtigkeit vom Militärdienst befreit, und auch seine Familie blieb von unmittelbaren Kriegserfahrungen verschont.

IN GEWISSEM SINNE ENTHÄLT DIESES KURZE LIED ALLES VON MIR, WIE EIN BAUMQUER-SCHNITT DIE GANZE ENTWICK-LUNG UND DAS GANZE LEBEN DES BAUMES AUFWEIST.

Gustav Mahler über „Revelge“

Noch auffälliger als der Schwerpunkt auf Soldatenliedern an sich, ist der Charakter, der Mahlers Liedern zugrunde liegt. Sie verherrlichen nicht, sondern zeigen gebrochene Figuren: Aufbegehrende, Verurteilte, Verlierer, Tote. Mahlers Soldaten sind keine Helden, sondern Menschen am Rand – verletzlich, scheiternd, oft schon jenseits des Lebens.

Der unerbittliche Rhythmus von „Revelge“ lässt einen gefallenen Soldaten mit seiner Trommel immer weiter marschieren. Eine gespenstische Szenerie, die durch den trallali-Refrain ins Lächerliche kippt. „Dem Rhythmus dieses Liedes musste nicht weniger als der 1. Satz meiner III. (Symphonie) als eine Studie vorausgehen; ich hätte es ohne das nicht machen können, und in gewissem Sinne enthält dieses kurze Lied alles von mir, wie ein Baumquerschnitt die ganze Entwicklung und das ganze Leben des Baumes aufweist“, so Mahler.

Mit „Wo die schönen Trompeten blasen“ schuf er sein innigstes und stillstes Werk innerhalb dieser militärischen Welt. Die Vortragsanweisungen „geheimnisvoll zart“ und „verträumt, durchwegs leise“ lassen kaum an ein Soldatenlied denken. Es ist der Abschied eines Soldaten von seiner Geliebten.

„Trost im Unglück“ lässt die Marschmusik im Charakter nur noch erahnen. Zwischen Stolz und Spott erklingt ein Dialog voller Selbsttäuschung. Dieser „Marsch“ führt nicht in Sieg oder Niederlage, sondern in die Ironie. Das Groteske und das Tragische liegen dicht beieinander.

 

Spiegel der Menschlichkeit

Was die Lieder vereint, ist die Schwelle von Naivität zu Tiefe, von Leichtigkeit  zu Abgrund. Als Miniaturen einer Welt im Umbruch erlauben sie Lächeln und Schmerz zugleich. Genau das macht (neben ihrer genialen Tonsprache) damals wie heute ihren Reiz aus. Mehr als hundert Jahre nach Mahlers Wunderhorn-Phase greift die israelische Komponistin Ella Milch-Sheriff dieses Material nun wieder auf – in einer Zeit, die ihre eigene Schwere kennt. Sie vertonte drei Gedichte aus Des Knaben Wunderhorn neu, zwei davon hatte Mahler bereits in Musik gesetzt. In ihrer eigenen Tonsprache spürt sie den Themen der Dichtungen nach und findet neue Lesarten dieser Miniaturen. Sie erzählen uns von Einsamkeit, Hunger und Tod – aus aktuellem politischen wie persönlichen Anlass.

Den Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den Mahler begann, setzt Milch-Sheriff fort – nicht als Zitat, sondern als Antwort.