INTERVIEW: Die Bühne blickt zurück

CHRISTOPHER WARMUTH Warum fiel die Wahl für Deinen Einstand als Intendant und Regisseur an der Staatsoper Hamburg auf Robert Schumanns selten gespieltes Oratorium Das Paradies und die Peri – statt auf erwartbares Strauss- oder Wagner-Repertoire?

TOBIAS KRATZER Die Peri ist auf mehreren Ebenen paradigmatisch für das, was für die Staatsoper Hamburg in den kommenden Jahren geplant ist. Als allererstes: Überraschungen sind ein Geschenk! Und dann halte ich die Peri tatsächlich für eines der zentralen Schlüsselwerke des  19. Jahrhunderts – genauso wichtig wie die Repertoireklassiker von Strauss oder Wagner. Und ja, es ist zwar keine Oper im klassischen Sinn – Schumann hat nur eine Oper Genoveva geschrieben –, doch gerade dieses Oratorium ist meiner Meinung nach sein tiefgründigstes musikdramatisches Werk. Und weil man es so selten szenisch erlebt, bietet es enorme Möglichkeiten. Sein Potenzial ist auf der Bühne noch nicht ausgeschöpft. Genau deshalb wollte ich es als ein programmatisches und poetologisches Statement auf die Bühne bringen. 

CHRISTOPHER WARMUTH Was sind denn die neuen Paradigmen in Hamburg? 

TOBIAS KRATZER Das Paradies und die Peri ist ein sehr kompaktes Stück – Schumann ist als Komponist legendär für seine dicht gesetzten Mittelstimmen. Musikkritiker haben das schon früh moniert. Ich empfinde das gerade als Gewinn. Denn es birgt den Reiz, es szenisch zu entkomprimieren – ich glaube, dem Werk hilft eine szenische Aufführung enorm. Und das Stück verdichtet, um was es uns in diesem Haus in den kommenden Jahren gehen wird: gesellschaftlich relevante Themen auf die Bühne zu bringen, aber mit höchster musikalischer Exzellenz und durchaus mit lustvoller Überraschung.

CHRISTOPHER WARMUTH Die erste Premiere steht in der Mitte des großen Eröffnungswochenendes „3 Tage wach“ – schon die Besetzungspolitik lässt auf mehreren Ebenen aufhorchen … 

TOBIAS KRATZER Zur Eröffnung muss man schon das komplette Tafelsilber auspacken: An unserem Haus ist der Chor eine der ganz großen und zentralen Künstler:innengruppe, die ich gleich bei der ersten Produktion nach vorne stellen und auch im Probenprozess kennenlernen wollte. In der Peri singen viele Ensemblemitglieder, auch die neuesten, und Gäste, die dem Haus schon lange verbunden sind. Die Peri ist ein Ensemblestück: Abgesehen von der Hauptfigur haben die Figuren kaum Eigennamen oder nur funktional benannte Rollen, die sich danach wieder ins Ensemble eingliedern. Das Stück lebt stark von Kollektivgeist und Teamspirit – nicht vom Wetteifern großer Solopartien. Mir ist es wichtig, diesen Geist auch für das Haus zu etablieren. Deshalb steht Das Paradies und die Peri nicht zufällig am Samstag: Am Freitag haben wir ein ungewöhnliches Orchesterkonzert programmiert, am Sonntag ein gleichberechtigtes Kinderstück mit den Allstars des Ensembles. Die Eröffnungspremiere steht natürlich als zentrales Werk in der Mitte, aber alles zusammen bildet gerade in seiner Vielfalt eine Einheit, als eine große umarmende Geste.

CHRISTOPHER WARMUTH Die Gattungsfrage ist bei Peri nicht ganz eindeutig – was ist es für Dich?

TOBIAS KRATZER Man verbindet Oratorien im zentraleuropäischen Raum eher mit kirchlichen Themen, christlichen Heiligenlegenden. Die Hauptfigur hier ist ein Engel aus der arabischen Mythologie, also per se exotisch. Gattungsgeschichtlich öffnet es geographische und gedankliche Räume, wie ich es kein zweites Mal kenne: Die Peri überblickt und überfliegt buchstäblich aus der Vogelperspektive verschiedene Welt- und Krisenregionen. Wenn es eine neue Gattung gäbe, wäre es vielleicht die erste Google-Earth-Oper der Musikgeschichte. Musikalisch finden sich hier auskomponierte Zoom-Vorgänge, von der Totalen ins Detail und zurück: eine geradezu filmische Scharfstellung.

CHRISTOPHER WARMUTH Der erste Teil als Heldentod und der zweite als Liebestod – wie fasst Du für Dich den dritten Teil?

TOBIAS KRATZER Das ist das Herz des Stückes: eine Miniatur über die Empathie. Es ist vielleicht der am wenigsten schnell einleuchtende Teil im Werk, eine Parabel über Empathie, in der eine ältere Generation über das Schicksal der nachfolgenden nachzudenken beginnt. Für mich ist es der Teil, der am weitesten über Opernkonventionen des 19. Jahrhunderts hinausgeht. Liebestod, Heldentod – das sind Themen, die unzählig häufig in Opern des 19. Jahrhunderts zu erleben sind. Aber dass hier Empathie auf diese Art ins Zentrum gestellt wird – eine Empathie, die gar nichts groß Heldenhaftes hat,  sondern eher aus einem inneren Erkenntnisprozess erwächst –, das ist schon einzigartig.

CHRISTOPHER WARMUTH Wenn man an Deine bisherigen Arbeiten denkt, vor allem an Deine großen Produktionen der vergangenen Jahre, dann wird man hier mitunter überrascht sein: der Performance-Space gepaart mit Deiner Anlage, die vierte Wand – die Trennung vom Publikum zum Bühnengeschehen – radikal zu öffnen, das machst Du nicht so häufig. Warum hier? 

TOBIAS KRATZER Oft verwende ich eine geschlossene Ästhetik, das stimmt. Aber im Grunde ist es immer das Werk, das die Ästhetik diktiert. Ich komme wieder zum Anfang: Überraschungen sind ja ein Glück! So dezidiert habe ich die vierte Wand tatsächlich noch nie geöffnet bei einer Inszenierung. Aber ich will damit dem Werk von Schumann folgen, das ich eher als essayistisch empfinde. Genau deshalb hat mich, wenn man so will, dieses Neuland interessiert. Sonst würde ich mich auch langweilen – und in der Konsequenz sicher auch das Publikum. Als regieführender Intendant ist es nicht das Schlechteste, mit dieser Begrüßungsgeste in einen Dialog mit dem Publikum zu treten. Das wird hoffentlich an vielen Stellen des Abends passieren. Und Dialog muss nicht immer Zustimmung heißen – vermutlich wird man das auch an diesem Abend spüren.

CHRISTOPHER WARMUTH Was ist die Rolle von Kunst in dieser krisengebeutelten Welt?   

TOBIAS KRATZER Die Frage nach der Rolle von Kunst in Krisenzeiten ist zutiefst dialektisch. Einerseits verspürt jede:r Künstler:in das Bedürfnis, das Unaussprechliche, das Gewaltvolle, die Grausamkeit in eine Form zu bringen, um es greifbar zu machen. Sobald ich jedoch versuche, so etwas wie eine gesellschaftspolitische Krisenzeit auf einer Bühne darzustellen, läuft das Gefahr, sie zu ästhetisieren und damit zu verharmlosen. Deshalb endet mein Zugang zu Das Paradies und die Peri eben nicht mit einer pathetischen Darstellung von Heldentod und Liebestod, sondern dialektisch, in der ständigen Reflexion darüber, ob wir durch ästhetische Überformung nicht eher verklären, statt wirklich hinzusehen.

CHRISTOPHER WARMUTH Und im Hinsehen ändert sich dann etwas über die angesprochene Empathie?

TOBIAS KRATZER Gerade Kunst hat das Potenzial, Empathie zu erzeugen – und zwar nicht nur für die Opfer einer Krise, sondern auch für all jene Verstrickungen, die einen Konflikt überhaupt erst hervorbringen. Wenn es gelingt, uns in die Perspektive eines vermeintlichen „Gegners“ zu versetzen, dann bröckeln Gewissheiten. Dann beginnen wir, Zusammenhänge zu hinterfragen, statt sie vorschnell zu verurteilen. Gerade der dritte Teil des Abends, die Empathie, zeigt, wie Kunst uns dazu zwingen kann, innezuhalten und den Blick zu weiten – über das unmittelbare Leid hinaus, hin zu den politischen, sozialen und psychologischen Verflechtungen. Dann kann uns Kunst verändern.

CHRISTOPHER WARMUTH Du thematisierst in dieser Arbeit auch, dass das Publikum Werke verändern kann.   

TOBIAS KRATZER Ja, das Publikum hat die letzte Phase einer Inszenierung fast komplett in der Hand. Das ist beinahe unendlich. Im Gegensatz zu den zwei Phasen davor: erst die Konzeption bis zum ersten Probentag, wenn Ideen für Raum, Klang, Bild entstehen. Dann die Probenphase bis zur Premiere, in der man gemeinsam mit Sängerinnen, Sängern und Projektbeteiligten – mit ihren Stimmen und Körpern – an konkreten Momenten arbeitet. Und schließlich die letzte Phase nach der Premiere, in der jede Vorstellung, jeder Applaus, jedes Husten und Rascheln, selbst ein zufälliges Hereinkommen, das Werk weiterformt. Erst durch diese fortwährende Begegnung mit dem Publikum wird das Stück komplettiert.

Auszug aus einem Interview, das von Christopher Warmuth während der Probenzeit zu dieser Musiktheaterproduktion am 7. Juli 2025 geführt und am 13. Juli 2025 freigegeben wurde. Das komplette Interview lesen Sie im Programmheft.