Im Dialog

von Lucilla Schmidinger

Philippe Hersant

„Usher“ für Harfe und Streichquartett

„Seine langen, improvisierten Klagelieder werden mir für immer in den Ohren klingen. Unter anderem habe ich eine gewisse einzigartige Perversion und Verstärkung der wilden Atmosphäre des letzten Walzers von Weber schmerzlich in Erinnerung.“ – Mit diesen Worten beschreibt der Erzähler in Edgar Allen Poes Der Untergang des Hauses Usher die musikalischen Darbietungen der Hauptfigur Roderick Usher.

Was findet sich aus der surrealen Novelle in der heute erklingenden Komposition wieder? 

PHILIPPE HERSANT (KOMPONIST):

Usher ist inspiriert von Claude Debussys unvollendeter Oper Der Untergang des Hauses Usher (im Auftrag der Metropolitan Opera 1908), die wiederum von Edgar Allan Poes gleichnamiger Erzählung inspiriert wurde. [...] Es sind noch einige Skizzen erhalten, darunter ein Monolog der Hauptfigur Roderick Usher. Ich habe mehrere Zitate aus Debussys Oper in mein Stück aufgenommen. Darüber hinaus zitiert mein Werk Webers Letzter Walzer, ein im 19. Jahrhundert sehr bekanntes Salonstück. In Poes Geschichte wird erwähnt, dass Roderick Usher diesen Walzer auf seiner Gitarre spielte. Man hört ihn zweimal, gespielt von der Harfe, in der Mitte und am Ende meines Stücks. Usher ist keine narrative Komposition, sondern eine Art musikalisches Porträt von Roderick Usher.

Poes Figur Roderick Usher kämpft mit einer mysteriösen Krankheit, die auf eine erbliche Veranlagung zurückzuführen ist. Er leidet an einer psychischen Störung und seine Sinne sind überempfindlich. So reagiert beispielsweise sein Gehör extrem geschärft auf Schritte, Stimmen und feinste Geräusche. 

Auf welche Klänge reagieren Sie besonders sensibel?

Robert Schumann

Streichquartett Nr. 1 a-Moll op. 41 Nr. 1

Das 1843 veröffentlichte Quartett in a-Moll bildet das erste von insgesamt drei Streichquartetten, und der Komposition war ein intensives Studium der Streichquartette Haydns, Mozarts und Beethovens vorangegangen (im Adagio klingt letzterer durch mit dem Adagio-Motiv seiner 9. Sinfonie). Clara Schumann hatte schon einige Jahre zuvor erste Quartettpläne mit der misstrauischen Frage quittiert, ob denn auch genügend Kenntnis von den Streichinstrumenten vorhanden wäre, um sich dieser Aufgabe zu stellen.

Was ist so herausfordernd daran?

ROBERT SCHUMANN (KOMPONIST):

Gerade im Quartett muß die Freiheit der Gedanken durch die strengste Form gebändigt werden. Nur wer die Regeln der Komposition und des musikalischen Bauens vollkommen beherrscht, kann in der Musik das Höchste der Empfindung ausdrücken. Das Quartett ist vielleicht die strengste, aber auch die reinste Form der Musik, weil hier jede Stimme klar und unversehrt ertönen muß. Die Gedanken, die in den einzelnen Stimmen geformt werden, müssen sich gegenseitig ergänzen und gleichzeitig in strenger Disziplin stehen, damit das Werk als Ganzes sich in Harmonie entfalten kann.

„FÜR MICH WAR DIE MUSIK STETS DIE ZUFLUCHT, WENN DAS LEBEN MIR ZU SCHWER WURDE.“

Robert Schumann

Im traditionellen Streichquartett sind alle vier Stimmen gleichberechtigt. Jeder Mitspielende darf sich nicht bloß als ausführendes Instrument betrachten, sondern ist in der Verantwortung, den inneren Zusammenhang des Werkes zu verstehen. Nur durch gegenseitige Aufmerksamkeit, Einfühlung und geistige Wachsamkeit wird das Quartett lebendig, der Dialog der Stimmen deutlich und die musikalische Idee hörbar. 

Wie nehmen Sie die Menschen in Ihrem Umfeld wahr, während Sie selbst sprechen?

Aribert Reimann

„Adagio – zum Gedenken an Robert Schumann“ für Streichquartett

Es ist bekannt, dass Schumann in seinen letzten Jahren in einen qualvollen Zustand nervöser Überreizung geriet, dass er – ähnlich wie Roderick Usher – an Wahnvorstellungen litt, von Stimmen und Tönen verfolgt wurde. Nachdem er einen proaktiven Sturz von einer Brücke überlebte, fühlte sich Schumann von der nervösen Überreizung so sehr beängstigt, dass er in eine Heilanstalt gebracht werden wollte. So kam er am 4. März 1854 in die Privatheilanstalt des Dr. Richarz in Endenich bei Bonn, welche er bis zu seinem Tod (29. Juli 1856) nicht mehr verließ.

Wie kann man sich Schumann in seinen Endenicher Jahren vorstellen? 

EDUARD HANSLICK (MUSIKKRITIKER UND -ÄSTHETIKER):

Über den Zustand Schumanns während dieses Aufenthaltes in Endenich sind [...] sehr irrige Vorstellungen verbreitet. Es ist begreiflich, daß der Gedanke an eine solche Heilanstalt bei den meisten Menschen gleich die gräßlichsten Bilder heraufbeschwört. Sie entsprechen aber keineswegs immer der Wahrheit. Nichts ist unrichtiger, als sich Schumann als einen Kranken vorzustellen, in dem jeder Funke von Denkvermögen ausgelöscht, jeder mit seiner Umgebung ihn verbindende Faden abgerissen ist [...]. Nichts dergleichen bei Schumann. Mild und freundlich, ja mitteilsamer als in manchen gesunden Tagen unterhielt er sich mit den ihn besuchenden Freunden Brahms und Joachim; er musizierte, las, schrieb Briefe und komponierte. Seine Krankheit äußerte sich nicht in den erschreckenden Formen der Exaltation oder des vollständigen Stumpfsinnes, sondern als eine tiefe Ermüdung, eine melancholische Abspannung, die vorübergehend in Gedankenflucht abirren mochte. 

„Zu den Werken Schumanns hatte ich schon immer eine starke Neigung“, sagte Aribert Reimann einmal – vielleicht auch, da er direkter Nachfahre jenes Arztes war, der Robert Schumann seinerzeit in der Endenicher Nervenheilanstalt behandelte. In seinem Gedenk-Adagio nimmt Reimann Bezug auf die melancholische Ausdruckskraft von Schumanns späterer Kammermusik und formt sie zu einer dunklen, intensiven Klangsprache. Als musikalisches Material dienten dabei zwei unvollendete und nicht textierte Choräle, die Schumann in Endenich am Klavier harmonisiert hatte: 

André Caplet

Conte Fantastique d’après Le Masque de la Mort Rouge für Harfe und Streichquartett

Die 1908 entstandene und 1923 für Harfe und Streichquartett überarbeitete musikalische Erzählung basiert auf Edgar Allen Poes Geschichte Die Maske des roten Todes. Klangliche Symbole wie der klopfende Tod und die unaufhaltsame Uhr erzeugen eine beklemmende Spannung – das Werk fängt Poes unheimliche Welt eindringlich ein und macht ihre düsteren Emotionen spürbar.

Was genau geschieht in dieser Geschichte?

ANDRÉ CAPLET (KOMPONIST):

Der Tod, ein schreckliches und tödliches Gespenst, schwebt über der Region und lauert auf seine Beute… In einer Atmosphäre voller Angst und Schrecken erscheint plötzlich und abscheulich die Maske des roten Todes, deren teuflisches Grinsen die wütende und gnadenlose Freude daran offenbart, alles der Vernichtung zu überlassen. Als wollten sie der Plage trotzen, feiern ein junger Prinz und seine Freunde fröhlich in einer befestigten Abtei, deren Ausgänge sorgfältig zugemauert wurden. Dort verwöhnt der Prinz seine Gäste mit einem Maskenball von ungewöhnlicher Pracht, und sein ausgefallener Geschmack sorgt für die Unterhaltung des Festes: Was für ein sinnliches Bild diese Maskerade ist! Doch jedes Mal, wenn die seltsame, tiefe Stimme einer sehr alten Uhr die Stunden schlägt, scheint die Begeisterung der Tänzer wie gelähmt… Kaum ist das Echo dieses Läutens verhallt, macht sich eine leichte, kaum zu unterdrückende Heiterkeit unter den Gästen breit. Das Fest geht weiter, jedoch mit weniger Elan und wie gehemmt durch die Erinnerung an diese Stundenrufe; doch nach und nach wird die Musik lebhafter. Die Paare wirbeln fieberhaft umher, als die Musiker auf eine plötzliche Geste des Prinzen hin innehalten… Im Schatten der Uhr,  wo Mitternacht schwer hallte, steht regungslos eine Gestalt, die in ein Leichentuch gehüllt ist. Tödlicher Schrecken ergreift alle Anwesenden. Der rote Tod war gekommen wie ein Dieb in der Nacht! Und alle Gäste fallen krampfartig nacheinander in den mit blutigem Tau überfluteten Sälen der Orgie zu Boden.

Die Harfe übernimmt eine besondere Rolle in diesem Werk, da sie – wie man ganz am Ende erkennen wird – den roten Tod symbolisiert, der zu Beginn mit einem düsteren Harfensolo hörbar geschildert wird. Ohne in Details die Handlung instrumental darzustellen, gelingt einerseits eine Darstellung der Erzählung und andererseits der Atmosphäre, wie die unheimliche Spannung und der Schrecken zunehmen. Vermutlich steckt aber in dieser Komposition nicht nur Poes Geschichte, sondern auch die Verarbeitung von Caplets persönlichen Kriegserlebnissen. 

Hat Musik schon einmal Ihre Schmerzen gelindert?