Gucken, buhen, schlafen:
Essay von Holger Noltze
Längst wird Robert Schumanns Das Paradies und die Peri im Konzert- und Opernbetrieb etwas spitzfingrig als Rarität behandelt, und jede der eher seltenen Aufführungen nimmt für sich in Anspruch, eine „Entdeckung“ zu präsentieren, immer irgendetwas Unerhörtes jedenfalls. Selbst die gängige Schumann-Literatur rümpft die Nase über die Vorlage: „manieristisch und sentimental“. Immerhin aber schöne Musik. Insofern kann überraschen, dass das vom Komponisten sicherheitshalber gar nicht erst „Oratorium“, sondern schlicht „Dichtung“ genannte Werk nach seiner erfolgreichen Uraufführung in Leipzig 1843 zunächst ein überaus erfolgreiches Stück blieb, gespielt von New York bis Kapstadt, in den folgenden zehn Jahren gar mehr als fünfzig Mal.
Das ist viel. Wer seine eigentümlich offene Form, in des Komponisten Worten ausdrücklich „keine Oper“, seine lose Reihendramaturgie weitgehend ohne übliches „Personal“, eher Stimmen im weitgedachten Raum eines durchsichtig dreiteiligen Erlösungstheaters, ohne auftrumpfende Finali, auch ohne finale Leiche, über die es in der Oper des 19. Jahrhunderts bekanntlich ja immer wieder geht – wer diese Eigentümlichkeit für den Makel hält, dass dies eben keine „richtige“ Oper sei, muss sich also fragen, wie sich der frühe Erfolg der Peri zu ihrem längeren Vergessen verhält. Und warum Schumann sie zeitweise für sein bestes Werk hielt, ausdrücklich seiner Neuheit wegen, „ein neues Genre für den Concert-Saal“ gar. Die Frage landet bei uns, damit kommen wir ins Spiel: das Publikum.
Im Jahr, als Schumanns Peri zur Welt kam, mit seiner schwebenden Genrezugehörigkeit, am Nikolaustag des Jahres 1843, da hatte diese Welt, ein paar Kilometer nur von Leipzig entfernt und nur ein paar Monate zuvor, schon sehen können, wohin sich der Innovationskurs des musikalischen Theaters bewegte. Richard Wagners Der fliegende Holländer war im Januar von Dresden aus in See gestochen, und dessen Komponist und Textdichter ließ keinen Zweifel an der Gattungszugehörigkeit „seines“ Erlösungstheaters: „große romantische Oper“. Interessant, dass sich etwa zur gleichen Zeit wie Schumann der drei Jahre jüngere Wagner, dessen Musikdramen die Zukunft gehören würde (und noch gehört, schauen Sie in die Spielpläne), für den Stoff interessierte: Die orientalisch kolorierte Geschichte des gefallenen Geistwesens, der Peri, dem die Rückkehr ins Paradies vom Wächterengel nur gegen die Überbringung einer heilig hehrsten himmlischen Gabe gewährt wird; es ist nicht das Blut eines getöteten Freiheitskämpfers, es ist nicht der Seufzer einer an einer Seuche dem Geliebten mitsterbenden jungen Frau; es ist die Träne eines von der Unschuld eines Kindes überwältigten Gewaltmannes. Das war reizvoll – und beide, Schumann und Wagner, waren interessiert. Er aber, Wagner, „fand dafür keine Form“, wie er an Schumann schrieb. Ja nun, fand denn Schumann eine?
Es ist wohl der ausgiebig geübte Blick gerade auf die (im weiteren Sinne) „große romantische Oper“, die an Schumanns faszinierend freier musikalisch-szenischer Konzeption vorbeisehen ließ und lässt, der das romantische Modell „Oper“ nur einmal, in seiner Genoveva realisierte; darin, nämlich nicht-Schule-machend, dem Schicksal von Franz Schuberts Fierrabras verwandt. Dafür entsprangen seinem inneren „Projektenbuch“ mit den Szenen aus Goethes Faust oder der Schauspielmusik zu Lord Byrons Manfred erstaunlich wagemutige Projektionen in musiktheatralisch offenere Räume. Übrigens hatte auch Schumann die Nibelungen, Lohengrin, Tristan und Isolde projektmäßig im Blick. Schon 1845 schreibt Schumann an Mendelssohn, nachdem ihm Wagner aus seinem Lohengrin-Text vorgetragen habe, er müsse seine eigenen Pläne zum Schwanenritter „in den Brunnen werfen.“ – Frappierend nah waren sie sich mit ihren stofflichen Interessen; gravierend anders fiel aus, was daraus wurde.
Dritter Teil, Das Paradies und die Peri
Eine solch differentialdiagnostische Betrachtungsweise, bei der Wagner ein Modell von Oper vertritt, das sich rezeptionsgeschichtlich durchgesetzt hat, und Schumanns musiktheatrale Projekte als „Raritäten“ auf einem Nebengleis landeten, kann jedenfalls ein Ausgangspunkt sein, das Genre Oper im 21. Jahrhundert auf seine Zeitgemäßheit zu befragen – zumal bei der Wahl als Eröffnungsstück einer neuen Intendanz an der Hamburgischen Staatsoper. Es darf sich als Routinendurchbrechung verstehen, und jetzt kommen wieder Sie ins Spiel: Gelingt es, die Potenziale eines einzigartig hirnöffnenden, dabei emotional fordernden musikalischen Theaters zu heben (besser: neu zu entdecken, denn entdeckt waren sie ja schon einmal), indem der Blick vom sicheren dunklen Parkettplatz aus an den geliebten, vielleicht ja auch gelegentlich langweilig gefundenen Routinen vorbei ins Un-Bekannte geht, nicht nur eines eher selten gespielten Stücks, womöglich ja sogar ins eigene Unbekannte. Die Träne des Mannes im dritten und letzten Versuchsaufbau: Vermag sie uns zu rühren? Gilt noch, was hier als lösendes Element behauptet wird, wo uns der Glaube an Er-Lösung eher abhandengekommen ist? Ähnlich dem Glauben, ein angeklebter Bart auf einer Bühne sei mehr als die Behauptung einer Figur? Die Zweifel sind ja berechtigt. Und was ist mit denen, die gar nicht erst dort Platz nehmen im Parkett, sondern Abstand, oder gar Reißaus?
Gut fünfzehn Jahre ist es her, da machte mich eine Opernstudio-Produktion von Così fan tutte im Cuvilliéstheater München nachdenklich, vor allem die Indifferenz des (vielleicht zufällig an diesem Abend dort versammelten) Publikums einer ja doch ausgewiesenen „Musikstadt“, im Fall eines bekannten Repertoirestücks des immerhin berühmtesten Komponisten der Musikgeschichte, angesichts einer ambitioniert poppigen Regie, die junge Menschen in ernsthafte Fragen der Liebe verstrickt zeigte, auf einem Campingplatz in Neapel. Das Ganze jedenfalls vor einem Auditorium, das dafür womöglich zu alt, im Falle von ein paar unter zehnjährigen Mädchen sicher zu jung war. Das Nachdenken kreiste um die Kommunikationstauglichkeit einer künstlerischen Anstrengung, und dass es für gelingende Akte der Kommunikation, des Verstehens, ja doch zwei Seiten braucht. Der Jungregisseur von damals ist inzwischen Intendant der Staatsoper Hamburg, und wenn er seine Arbeit jetzt weder mit Richard Wagner noch mit Wolfgang Amadeus Mozart, noch mit Richard Strauss oder Giuseppe Verdi beginnt, sondern mit Robert Schumanns Nicht-Oper, dann könnte das ein beherzt gesetztes Fragezeichen sein. Auch an uns, an Sie: Was wollen Sie hier? Was suchen Sie? Sind Sie zu erreichen für Schumanns nur auf den ersten Blick „sentimentalen“ Versuchsaufbau, für seine „heil’gen Tränen“, die da am Ende fließen, vielleicht nicht erlösend, aber doch lösend für unsere gerade global und meist ja auch persönlich multipel gestressten Hirne und Herzen, den Blick sanft in andere Gefilde lenkend, nicht weg von der Wirklichkeit, sondern dahin?
bell hooks
Wenn richtig ist, dass Kunst (auch) ein Kommunikationsakt ist, dann hängt dessen Gelingen oder Nichtgelingen nicht nur am Werk und seinen Ausführenden, sondern auch an uns da unten im Parkett. Dann wäre es gut zu wissen, was da los ist, im Dunkel und mit dem gewohnten Sicherheitsabstand zur Kunst. Nichts gegen eine kleine Minute Theaterschlaf, man ist kurz weg und wacht dann in einer anderen Welt auf, und manchmal braucht es gerade diesen Übergang in eine entspannte Rezeptivität. Doch ein kollektiv vor sich hindämmerndes Publikum wird für die besonderen Wirkungen und Möglichkeiten einer musikalisch-szenisch immersiven Theatererfahrung kaum erreichbar sein. Das macht dann nichts, wenn es bloß um schöne Töne geht. Bei Schumann geht es aber um Wesentliches, und genau nicht um Sentimentalitäten. Die Geschichte vom Publikum und der Peri, und gerade auch die Geschichte dessen schnellen Erfolgs (gelingender Kommunikation) und einer längeren Entfremdung, sie ist, möchte man hoffen, noch nicht zu Ende. Und dass Schumanns genreoffene Versuche am offenen Herzen der Oper sich bei aller stofflichen Nähe auf so ganz anderen Umlaufbahnen bewegen als Richard Wagners musikdramatische all-inclusive-Angebote, so verlockend sie als Behaglichkeitsversprechen auch sind, darin liegt eine Chance, das ganze „unmögliche Kunstwerk“ (Oskar Bie) in seiner faszinierenden Unmöglichkeit für dieses schwierige Heute zu entdecken – mit all seinen Ängsten, aber auch Tröstungen. Wo es aber, wie man so sagt, ans Eingemachte geht, kann es auch unbehaglich werden, und das Durchlässigwerden der „vierten Wand“ (der zwischen Bühne und Publikum) kann auch eine Zumutung sein. Der Buh-Ruf, eigentlich eine Unhöflichkeit, eine Respektlosigkeit jedenfalls gegenüber einer ernsthaften künstlerischen Anstrengung, er ist das Andere des Dämmerschlafs im Zuschauerraum, eine störende Intervention, Protest, jedenfalls ein kommunikativer Akt, eine Reaktion. Vielleicht der Anfang von etwas.
Und dann, zwischen den Extremen – Dämmern und Brüllen –gibt es ja, was die Rolle des Publikums angeht, auch noch ein Mittleres: Einfach mal gucken. Zuschauende sein, zwanglos Schumanns genreoffenen Flugbahnen zu folgen, bei denen man nicht schon weiß, wohin die Reise geht, ins innere Indien, Ägypten, Syrien, „die Pforte geöffnet zum Himmel hinan.“ – Achtung dabei: Sie sind im Bild!