Eine Suche nach Ekstase zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Als Beethoven (1770 – 1827) in die Tasten griff und sein drittes Klavierkonzert in Wien zur Uraufführung brachte, war dieser Ort, an dem wir sein Werk heute neu erleben dürfen, noch Elbvorland und Hafengebiet. Angenommen, wir wären 222 Jahre zu früh zum heutigen Konzert angereist, so hätten uns die Klänge von knarrenden Stegen, rufenden Hafenarbeitern und Peitschenhieben der Pferdewagen begrüßt. Ein organisches Grundrauschen ohne Motorenlärm. Und damals wie heute das Glucksen der Elbe, das Sausen des Windes und zur passenden Zeit die Kirchenglocken des Michels in der Ferne. In der Luft lagen der modrige Geruch des Brackwassers vermischt mit Schlick und Fischereiabfällen, herüberwehende Aromen der Schlachthöfe und Gerbereien, dazu der rauchige Dunst der Öfen aus den umliegenden Werkstätten. Die Speicherstadt und damit der Grundstein für die heutige HafenCity entstand erst 80 Jahre später, als Bruckner bereits an seiner siebten Symphonie arbeitete.
Beethovens drittes Klavierkonzert steht an der Schwelle zu seiner mittleren Schaffensperiode, die gerne als „heroische Phase“ bezeichnet wird. Parallel dazu komponierte er seine dritte Symphonie, die „Eroica“. Er lebte zur Zeit der Uraufführung als freier Komponist und Virtuose in Wien. Sein Klavierkonzert, das dritte von insgesamt fünf, führte er im Rahmen eines seiner Akademiekonzerte erstmals auf. Er war Solist, Komponist und Veranstalter in einer Person. Der Klavierpart ist selbstredend anspruchsvoll und brillant, vor allem aber verlangt er individuellen Ausdruck und Innigkeit. Das Werk und die Umstände seiner Uraufführung sind geradezu ein Manifest des romantischen Künstlerideals, das die Assoziation eines Handwerkes weit hinter sich lässt und stattdessen den Schöpfer als geniales Individuum stilisiert. Eine Anekdote des BeethovenFreundes Ignaz von Seyfried, der bei der Uraufführung die Noten für ihn umblätterte, unterstreicht dieses Künstlerbild: Die Noten seien bis auf unverständliche Hieroglyphen leer gewesen. Beethoven habe demnach aus dem Gedächtnis gespielt oder gar improvisiert.
Sehnsucht nach
Mensch und Natur
Analog zum romantischen Künstlerbild entwickelte sich die Prägung des modernen Konzerterlebnisses, bei dem Musik nicht nur angenehm, sondern persönlich und bedeutsam sein soll. Das sind Beethovens Kreationen fraglos – in jeder einzelnen Note. Nicht umsonst meinten Zeitgenossen wie nachkommende Musikwissenschaftler und Kritiker, in seiner Musik seinen Gesundheits- und Seelenzustand herauszuhören. Im „Heiligenstädter Testament“, das Beethoven im Herbst 1802 in dem Wiener Vorort Heiligenstadt niederschrieb, ist Beethovens Gemütszustand detailliert überliefert. Offiziell an seine Brüder gerichtet, beginnt es mit einem Appell an die Menschheit: „O ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet oder erklärt, wie unrecht tut ihr mir.“
Beethoven erläutert seinen Rückzug aus der Gesellschaft mit der Verschlimmerung seines Gehörleidens. Auch litt er häufig an Unterleibserkrankungen. Aus seinen Zeilen spricht der Wunsch, vor seinem Tod, all seine künstlerischen Fähigkeiten zu entfalten, Erleichterung seiner körperlichen Leiden in der Natur zu finden und von den Menschen in Liebe angenommen zu werden. Er sehnt sich danach „einmal einen reinen Tag der Freude (…) im Tempel der Natur und der Menschen zu fühlen“ ebenso wie „in die Reihe würdiger Künstler und Menschen aufgenommen zu werden“.
Beethovens Worte geben uns Einblicke in sein Innerstes, zugleich umreißen sie ein Lebensgefühl, das seiner Zeit entspricht. So gilt das „Heiligenstädter Testament“ auch als Fundament der symphonischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, deren Dramaturgie immer deutlicher dem Aufbau „(Naturzustand) – Störung – Rettung“ folgte.
Diese Verfassung, diese Wünsche sind es also, die Beethoven in seinem Kompositionsprozess begleiteten als er sich für die Tonart c-Moll entschied und damit Mozart und dessen c-Moll-Konzert KV 491 nachfolgte. Er bewunderte den Ernst und die Orchesterdichte in Mozarts Klavierkonzert und weitete diese mit seinem Konzert in symphonische Ausmaße und einen eigenständigen, gleichsam sprechenden Solopart. Die ersten Takte der Orchesterexposition bergen diese beiden Welten in Nuce: Mozarts Sanglichkeit und Eleganz und Beethovens kämpferische Energie. Die Bühne ist für den Solopart bereitet, der die narrative Rolle in seiner Exposition übernimmt – ein poetischer Dialog, aber auch ein Ringen, halb Spiel, halb Ernst. Beethoven spielt mit Solo- und Orchesterpart und ebenso mit uns, seinen Zuhörenden: Themen scheinen unvermittelt stehenzubleiben, tauchen verändert auf oder wickeln uns in Schleifen ein. Es sind Klänge, die zupacken oder sanft in ihren Bann ziehen. Allein, die Überraschung, die Heftigkeit, die sie bei ihrem ersten Erklingen erwirkten, lässt sich nicht noch einmal wiederholen. Beethovens Noten tragen Jahrhunderte der Geschichte in sich und unsere Ohren können die Musik der folgenden Jahrhunderte, die sie kennen, nicht leugnen ebenso wenig wie das Grundrauschen der Motoren in unserem Alltag.
Ein Choral unserer Zeit
So wagen wir ein ZeitSpiel – das erste seiner Art – und versuchen der Energie der Uraufführung 1803 näherzukommen, uns überraschen zu lassen von Komponist und Solist in Personalunion, die Zeit zu überwinden und zugleich im Spiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu genießen: Stephen Hough spielt im ersten Satz Beethoven, im zweiten seine eigene Komposition, die auf das Engste mit Beethoven verknüpft ist, und im dritten Satz wiederum Beethoven.
Das Beethoven’sche Original des langsamen zweiten Satzes ist ein Largo, das in seiner Ruhe und Zartheit geradezu meditative Wirkung entfaltet. Ein Moment des Innehaltens und Nachspürens. Hough, der sich Beethoven gleich einem engen Freund verbunden fühlt, fasziniert dessen Suche nach Ekstase. Und das nicht zwingend in den vor Energie berstenden Klängen, sondern gerade hier, im langsamen Satz, dessen Ekstase jenseits der Noten liegt. Seinen neuen zweiten Satz bezeichnet Hough als Choral, der auf den Harmonien des Beethoven’schen Klaviersolos zu Be ginn fußt und dabei seinen Ursprung im 21. Jahrhundert mit Stolz trägt. Es ist ein intimer Austausch zwischen ihm und Beethoven. Ein ZeitSpiel der zwischenmenschlichen wie musikalischen Harmonie , das wir erleben dürfen.
Mit dem Finale aus Beethovens Feder tauchen wir zurück in die Vergangenheit und sind doch im Hier und Jetzt, inmitten einer Eruption von Lebensfreude – virtuos, spielerisch, unmittelbar.
Hamburg, 10. September 2025