INTERVIEW: Naive Kunst in schwierigen Zeiten

Azim Karimov im Gespräch mit Katinka Deecke

KATINKA DEECKE Was bedeutet es für Dich als im Exil lebender russischer Staatsbürger Ruslan und Ljudmila (manche bezeichnen die Oper als „Nationaloper“) in einer deutschen Stadt zu dirigieren, während Dein Land sich im Krieg befindet und Deutschland Teil der gegnerischen Allianz ist? 

AZIM KARIMOV Ich denke, es wäre sehr traurig, wenn wir in der öffentlichen Wahrnehmung beginnen würden, eine direkte Verbindung zwischen dem Erbe großer Künstler:innen der Vergangenheit und den Handlungen gegenwärtiger politischer Regime herzustellen. Für mich steht Kunst über Politik – aber das gilt nur für die Kunstwerke, nicht für Künstler:innen. In den falschen Händen kann jedes Kunstwerk zu einem mächtigen und sogar gefährlichen politischen Instrument werden. Künstler:innen sind ein wesentlicher Bestandteil der Zivilgesellschaft und leben wie alle anderen in einer politischen Realität. Selbstverständlich hat jede:r das Recht auf seine:ihre eigene Position, das ist eine persönliche Entscheidung. Meine eigene Position zu den Ereignissen der letzten Jahre in meinem Heimatland ist, glaube ich, klar: Ich habe meine Heimat 2022 verlassen, meine Karriere unterbrochen und 2023 hier in Deutschland völlig neu angefangen. 

KATINKA DEECKE Wie gehst Du mit dem russischen Nationalismus des Librettos um?

AZIM KARIMOV Ruslan und Ljudmila hat keinen besonderen Fokus auf einer nationalistischen oder patriotischen Agenda, es ist ein Märchen. Anders als beispielsweise Glinkas frühere Oper Ein Leben für den Zaren. Bei Ruslan und Ljudmila geht es in erster Linie um den Sieg des Guten über das Böse, den Sieg der Liebe über den Hass und den Sieg des Lebens über den Tod. Liebe, Freundschaft und Solidarität zwischen so verschiedenen Charakteren, die auch unterschiedliche Kulturen repräsentieren, wie Ruslan, Ljudmila, Ratmir, Gorislawa und Finn sind der beste Beweis für den friedliebenden und humanen Charakter dieser Oper.

Ich möchte noch einmal betonen: Kunstwerke stehen über der Politik, und in diesen schwierigen, komplexen und zutiefst beunruhigenden Zeiten müssen sie geschützt werden. Auch russische Kunstwerke können und sollten wie jedes andere Kulturerbe über die Landesgrenzen hinaus bewahrt und unterstützt werden. Vielleicht bin ich damit auf meine Weise naiv, aber ich glaube immer noch an die Menschheit, und ich glaube, dass Kunst dazu da ist, Brücken zwischen ihnen zu bauen – und nicht Mauern.

Um auf Deine erste Frage zurückzukommen – was  es für mich bedeutet, an dieser Oper zu arbeiten –, so ist es in erster Linie eine große Verantwortung. Die Möglichkeit, mich hier in Europa mit dieser Partitur zu beschäftigen, ist nach wie vor ein seltenes und kostbares Privileg. Ich schätze mich sehr glücklich. Seit 2023 kann ich wieder das tun, was ich liebe: in wunderbaren Theatern arbeiten, zusammen mit inspirierenden Musiker:innen, Künstler:innen und Kolleg:innen. Dafür bin ich zutiefst dankbar – Deutschland, das mir ein Zuhause geboten hat, und all den Menschen, die an mich geglaubt haben und mich weiterhin unterstützen. 

KATINKA DEECKE Was ist musikalisch so besonders an Glinkas Oper? 

AZIM KARIMOV Es ist nicht leicht, Ruslan und Ljudmila mit einfachen und wenigen Worten zu beschreiben. Einerseits handelt es sich um eine Belcanto-Oper, geprägt von virtuosen Gesangspartien und tief lyrischen Szenen voller Empfindung, Zärtlichkeit und Herzlichkeit. Andererseits ist es eine magische Oper, reich an Wendungen und Elementen, in denen Realität und Fantasie miteinander verschmelzen. Das ist das Wesen einer der ersten russischen Opern überhaupt. Glinka war ein echter Musik-Liebhaber im alten, ursprünglichen Sinne des Wortes von „Dilettant“ oder „Amateur“ – jemand, der sich aus Liebe und nicht aus Pflichtgefühl der Kunst widmet. Er war kein professioneller Komponist, was keineswegs bedeutet, dass er ungebildet war. Im Gegenteil, er sog Wissen aus aller Welt auf – ein wahrer Kosmopolit. Er lernte von Lehrern wie John Field und Carl Mayer, von Siegfried Dehn in Deutschland, und natürlich sollten wir auch Gaetano Donizetti und Vincenzo Bellini erwähnen, mit denen er befreundet war. Vielleicht gerade weil er keiner strikten akademischen Schule angehörte, war Glinka völlig frei – und seine Musik wurde zum Ausdruck kreativer und schöpferischer Intuition. Vor einiger Zeit sprach ich mit meinem Lehrer und Mentor Vladimir Jurowski über Schillers Essay Über naive und sentimentalische Dichtung. Ich glaube, wenn wir Schillers Theorie auf die Musik anwenden, ist Glinkas Partitur das perfekte Beispiel für naive Kunst – wo es meistens ausreicht, der Einfachheit der Noten, der Aufrichtigkeit der Melodien und der Wahrheit der Gefühle, die sie wecken, zu vertrauen.

KATINKA DEECKE Mit welchem musikalischen Umfeld ist Glinka verknüpft, wo liegen seine Einflüsse?

AZIM KARIMOV Ruslan und Ljudmila wurde in denselben Jahren fertiggestellt wie Giuseppe Verdis Nabucco und Richard Wagners Der fliegende Holländer. Natürlich war Glinkas Einfluss geografisch begrenzt, aber nicht weniger bedeutend als der von Verdi oder Wagner. Wir können im Detail untersuchen, welche Ideen er möglicherweise von anderen übernommen haben mag – für mich ist jedoch weitaus interessanter, einen Blick darauf zu werfen, welche Türen Glinka damit seinerseits für die zukünftigen russischen Komponisten geöffnet und wie er sie beeinflusst hat. Wie in einer Art Flash-Forward kann man bereits die zukünftigen „Zitate“ von Pjotr I. Tschaikowski, Nikolai Rimski-Korsakow, Modest Mussorgski, Igor Strawinski und sogar Sergei Prokofjew hören – ebenso wie Anklänge an zukünftige sowjetische Musicals und Märchenfilm-Soundtracks. Glinka war ein talentierter Enthusiast, der einen kraftvollen Impuls gab, aus dem später das entstand, was als Russische Musik bekannt wurde. 

KATINKA DEECKE Was ist Dein Lieblingsmoment in der Partitur? 

AZIM KARIMOV Das ist sehr schwierig zu beantworten, besonders bei dieser Oper. Fast jede Szene in Ruslan und Ljudmila hat ihren ganz eigenen Charme und einen unvergesslichen melodischen Charakter. Es gibt ein Wort im Deutschen, das ich während der Probenzeit oft höre: Ohrwurm. Und ich muss sagen, diese Oper ist voll von diesen wunderbaren „Würmern“. Einige von ihnen sind innerhalb der Musikwelt regelrecht zu Markenzeichen der Oper geworden: der Marsch von Tschernomor (4. Akt), den Liszt besonders bewunderte; die Tänze von Naina und die „Orientalischen Tänze“ (ebenfalls 4. Akt), die Berlioz oft in seinen Konzerten dirigierte. 

Nicht zu übersehen und zu überhören ist Gorislawas Szene (3. Akt), die Tschaikowski mit ziemlicher Sicherheit inspirierte, als er Tatjanas Briefszene für Eugen Onegin schrieb. Und natürlich gibt es Ljudmilas Szene (4. Akt) mit dem unsichtbaren Frauenchor, dem ausgedehnten Violinsolo und dem magischen Klang der Glasharmonika – eine atemberaubende Kombination von Klangfarben.

Oder auch die Tatsache, dass es in dieser Oper nicht nur eine, sondern zwei Bühnenorchester gibt – ein Begräbnisorchester und ein volles Blasorchester mit etwa vierzig Instrumenten. Dieses Detail wird oft übersehen, da auf der ersten Seite der Partitur nur das eine Orchester im Orchestergraben aufgeführt ist. Direkt darunter ist jedoch in kyrillischer Schrift sorgfältig vermerkt: „Zudem wirken zwei Blasorchester auf der Bühne mit.“ Es kann zu ziemlichen Überraschungen kommen, wenn man kein kyrillisch liest oder die erste Seite überblättert – man liest ein paar Seiten weiter und steht plötzlich nicht einem, sondern mehreren Orchestern gegenüber, die alle darauf warten, einzusetzen. Die gesamte Oper sprüht vor brillanten Ideen und lebhaften musikalischen Einfällen, die nur aus Glinkas besonderem Geist stammen können. Und dennoch: Der Moment, der mich am meisten berührt, ist Ljudmilas Erwachen gegen Ende der Oper (5. Akt). In der Schlichtheit dieser Szene findet sich eine Kraft und Zärtlichkeit – eine stille Magie, die noch lange nachhallt, auch wenn die Musik bereits verklungen ist. 

Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Programmheft zur Produktion.