„Ich bin ein Geschichtenerzähler“
MEET THE ARTISTS. Das neue Format stellt Mitglieder:innen unseres Opernensembles im kleineren, persönlichen Rahmen der opera stabile vor – im Dialog mit ihrem Publikum. Am 26. November lernen Sie den Sänger und Fotografen Kartal Karagedik kennen – eine gemeinsame Entdeckungsreise durch die Kunst, das Leben und all das, was ihn inspiriert.
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Das neue Format Meet the Artists ist mit Absicht offengehalten. Ausgehend von einem lockeren Gespräch mit der stellvertretenden Intendantin Bettina Giese gestaltest du den Abend als Künstler. Was ist dir dabei wichtig?
Der Abend soll wirklich unkompliziert und nicht verkünstelt sein – ein Abend unter Freunden, wie wenn man zu Hause zusammensitzt und musiziert, oder eine Einladung zum Essen. Ich habe überhaupt keine Erwartungen. Denn so bin ich: Meet the Artist ist das Konzept, und ich bin ein ganz lockerer, spontaner, kompliziert unkomplizierter Mensch. [Lacht.] The only problem is that there is no problem!
… was bedeutet: Du sprudelst über vor Ideen?
Ich mache viel: Ich male, ich fotografiere, ich schreibe, ich spiele Klavier, ich singe. Jetzt habe ich ein neues Hobby: Ich arbeite mit Holz und designe komische Möbel. Was ich mache, mache ich leidenschaftlich.
Was war denn zuerst da: das Singen oder das fotografische Sehen?
Das Singen ist mir eine Freude und hat mir ein Leben geschenkt, das ich mir nie erträumt hätte. It’s a blessing! Die Fotografie steht an zweiter Stelle, sie ist mein zweiter Beruf. – Ich komme nicht aus einer musikalischen Familie, meine Eltern hatten gar nichts mit Musik zu tun und konnten sich auch keinen Unterricht leisten. Als Kind habe ich aber oft klassische Musik im Radio gehört, bin dabei von Tisch zu Stuhl gesprungen und habe Orchestermusiker imitiert. Als ich 16 war und zum Gymnasium ging, gab es einen Mann in einer Cafeteria mit einem sehr alten, sehr schlechten Klavier. Dem habe ich Zigaretten oder eine Kleinigkeit zum Essen gekauft, dafür hat er mir Musikunterricht gegeben. So habe ich Notenlesen gelernt. Ein paar Jahre später habe ich mich auf der Musikhochschule in Izmir für die Kompositions- und Dirigentenklasse beworben. Ich hatte auch in einigen Chören mitgesungen, und einer der Chorleiter sagte: Oha, du hast eine interessante Bariton-Stimme. Daraufhin nahm ich etwas Gesangsunterricht, aber daran gedacht, Opernsänger zu werden, habe ich nie. Nur ungefähr eine Woche lang habe ich mich damals auf die Gesangsprüfung vorbereitet. Und sie haben mich als einen von sechs aus 170 Bewerbern ausgewählt. Das war der schönste Zufall meines Lebens.
Was möchtest du deinem Publikum geben? Und was gibt es dir zurück?
Ich bin ein Musiker. Und auch ein Schauspieler. Ich nutze meine Stimme, um Geschichten zu erzählen. In meinem Gesang, aber auch in meiner Fotografie bin ich ein Geschichtenerzähler. Und ich liebe Kommunikation – durch Kommunikation wird die Welt schön. Ich bin neugierig, was für Geschichten die Leute von mir hören wollen. Und auch ein kleines musikalisches Programm haben wir uns für den Abend überlegt.
Welche Idee liegt denn deiner Fotoserie HIATUS zugrunde, die du bei Meet the Artists zeigen wirst?
Das lateinische Wort „Hiatus“ bedeutet Unterbrechung, einen Bruchteil der Zeit – in der Kontinuität der Zeit hält etwas an. Und genauso sehe ich meine Fotografie: Sie fängt einen Moment ein. Zur Ausstellung gehören 26 Fotos, einige werde ich zu Meet the Artists mitbringen. Die Umgebung darin ist sehr chaotisch und es ist laut. In diesem Chaos suche ich den Moment der Stille. Oft handelt es sich um touristische Orte, ich aber nehme die ganz stillen, zeitlosen und ruhigen Momente in den Fokus. Jedes Foto erinnert mich an etwas Bestimmtes, zum Beispiel an Freundschaft. Ich sehe das Foto, rufe meine Freunde an und frage, wie geht es dir, das bringt mich zu Ruhe und innerem Frieden.
Was verbindet diese beiden Leidenschaften: das Singen und das Fotografieren?
Ich bin Kartal. Und ich bin nicht nur ein Sänger oder ein Fotograf. Das ist etwas, was ich mit Freude mache. Aber das bin ich nicht. Als Opernsänger bin ich ein Extrovertierter auf der Bühne – oft schauen mich 2000 Leute, also 4000 Augen an. Das muss ich irgendwie kompensieren: Also bin ich als Fotograf derjenige, der hinter der Kameralinse nach außen schaut. Auch zur Fotografie habe ich übrigens durch ein Kinderspiel gefunden: Ich lief als National Geographic-Fotograf durch mein Wohnzimmer und war mir sicher, da gibt es einen Jaguar oder einen Löwen, das konnte mir niemand ausreden! Wenn du mit dieser Vorstellungskraft als Opernsänger auf der Bühne stehst und behauptest, ich bin Amfortas und diese Wunde ist wirklich, sie tut mir weh, dann kommt das auch beim Publikum an.
Was gibt dir außerdem Energie?
Ich liebe Psychologie und ich liebe Carl Gustav Jung. Aber das ist mehr als Liebe: Ich lese ihn jeden Tag und analysiere alle Opern, die ich singe. Und ich interessiere mich fanatisch für das kollektive Unterbewusstsein und dessen Archetypen. Gleichzeitig liebe ich Mythologie. Deswegen habe ich mein erstes Album mit Schuberts Prometheus gemacht und darin versucht, in einem Zyklus von 21 Liedern mythologische Archetypen zu kreieren als eine innere Odyssee.
Und die Bühne ist dein Element?
Das war schon bei meinem ersten Klassenkonzert an der Hochschule wie ein Erweckungsmoment: Ich ging auf die Bühne, sang eine Arie und es war wie der große Satz im Parsifal: Die Zeit existierte nicht mehr. Ich war so betrunken von diesen Emotionen auf der Bühne … Da habe ich zum ersten Mal verstanden: Okay, das ist meine Zukunft, das möchte ich so lange wie möglich weitermachen. Und das tue ich bis heute: mit der gleichen Aufgeregtheit und der gleichen kindlichen Unschuld.
Das Gespräch mit Kartal Karagedik führte Teresa Grenzmann am 17. Oktober 2025.