Alles, was Oper kann

Hochverehrtes Publikum, moin Hamburg, hallo Welt,

es gibt kein Medium, in dem die Unmittelbarkeit des sinnlichen ­Erlebens, ja der körperlichen Überwältigung, und die Komplexität von künstlerischer Form und gesellschaftspolitischen Inhalten einander so nahe kommen wie in der Oper! Darin liegt für mich die Schönheit – und die Berechtigung der Gattung. Und diese Erlebnismöglichkeiten, die sich hier wie in keiner zweiten Kunstsparte auftun, möchten mein Team und ich in unserer ersten gemeinsamen Spielzeit für Sie ­erfahrbar machen: ALLES, WAS OPER KANN!

Kein Ort wäre dafür prädestinierter. In ihrer nun fast 350-­jährigen Geschichte war die Staatsoper Hamburg vieles: die erste ­Bürgeroper Deutschlands, ein Ort avancierten Musiktheaters, die Geburtsstätte spektakulärer Uraufführungen. Ich freue mich darauf, zusammen mit Ihnen und den Mitarbeiter:innen des Hauses ein ­weiteres Kapitel im Geiste dieser an Abwechslungen reichen Geschichte aufzuschlagen!

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Matthias Baus

1. Erkundung der
Gattungsgrenzen

Die Premieren meiner ersten Spielzeit – 6 auf der Großen Bühne, 3 in unserer kleineren Spielstätte, der opera stabile – erkunden lustvoll die Gattungsgrenzen.
Schon die Eröffungspremiere ist keine Oper im klassischen Sinne, sondern ein weltliches Oratorium: Robert Schumanns Paradies und die Peri, das kaum je szenisch auf einer Bühne zu erleben ist. Unser neuer Generalmusikdirektor (GMD) Omer Meir Wellber und ich ­verstehen es als programmatisches Statement, dieses zentrale Werk des 19. Jahrhunderts, das gleichzeitig großes Chorwerk und Sänger:innenfest wie auch ein Reflexionsraum über die Möglich­keiten des Musiktheaters ist, gemeinsam für die Bühne zu gewinnen. Mit der zweiten Premiere, der Kinderoper Die Gänsemagd der in Hamburg geborenen Komponistin Iris ter Schiphorst, der ich mich ebenfalls selbst als Regisseur annehmen werde, rückt schon am Eröffnungswochenende eine weitere Programmatik meiner ­Intendanz in den Fokus: Oper für junges Publikum wird zukünftig (wie auch mit dem Abend Stockhausen für Kinder: Michaels Reise, den die FAUST-Preisträgerin Elisabeth Stöppler am Ende der Saison in­­szenieren wird) integraler Bestandteil des Hauptprogramms. 

Es ist mir hier wie in den weiteren Premieren der ersten Spielzeit ein Anliegen, nicht nur spannende Werke unterschiedlichster ­Gattungen, sondern auch musiktheatrale Formate vorzustellen, die die ­Gattungsgrenzen immer wieder neu definieren: So habe ich den Regisseur Christopher Rüping, den für mich derzeit wichtigsten Schauspielregisseur seiner Generation, gebeten, zusammen mit Omer Meir Wellber nicht eines der kanonischen Werke Mozarts ­
neu zu inszenieren, sondern einen Mozart-Abend auf der Großen Bühne zu kreieren, der uns diesen vermeintlich bekanntesten aller Komponisten ganz neu hören lässt: Die große Stille.

Und mit Christoph Marthalers Abend Die Unruhenden kehrt einer der auch für Hamburg zentralsten Theaterkünstler an die Staatsoper zurück. Er eröffnet hier eine Reihe, die auf den 350. Geburtstag der Hamburgischen Staatsoper im Jahr 2028 zulaufen soll: In unterschiedlichen Projekten werden wir uns den eigenschöpferischen GMDs und Intendanten widmen, die das Haus in seiner langen Geschichte geprägt haben. Den Auftakt macht dabei ein szenischer Abend mit Musik von Gustav Mahler, der sechs Jahre lang als GMD in Hamburg wirkte und selbst nie eine Oper, wohl aber einige der theatralsten Musiken des beginnenden 20. Jahrhunderts ­­geschrieben hat.

Ähnliche Erlebnismöglichkeiten erhoffe ich mir von der Konfrontation dreier stilistisch ganz unterschiedlicher Werke in dem von mir selbst inszenierten Abend Frauenliebe und -sterben, der Bartóks Herzog Blaubarts Burg den Schumann’schen Liedzyklus Frauenliebe und -leben als szenischen Prolog voranstellt und Zemlinskys Einakter Eine florentinische Tragödie folgen lässt. 
Jede dieser Premieren versucht in der überraschenden Neu­zusammenstellung bestehenden Materials unerwartete Hörein­drücke und inhaltliche Tiefenbohrung zu ermöglichen.

Ein Werk ganz am Anfang einer Gattungstradition, nämlich der Großen Russischen Oper, ist Michail Glinkas in Deutschland so gut wie unbekanntes Ruslan und Ljudmila, ein musikalisch farben­prächtiges und mitreißendes, thematisch hochpolitisches Märchen, mit dem das junge ungarische Regieduo Magdolna Parditka und Alexandra Szemerédy sein Debüt in Hamburg geben wird. 
Und mit Tatjana Gürbaca kommt eine der international gefeiertsten Opernregisseurinnen endlich an die Staatsoper um mit Il barbiere di Siviglia von Gioachino Rossini eine seit längerem bestehende Repertoirelücke zu schliessen. 

Erkundung der Gattungsgrenzen heißt für mich aber auch  –  gerade in Hamburg mit seiner seit der Intendanz Rolf Liebermanns legendären Uraufführungstradition  –  das Repertoire jedes Jahr um (mindestens) eine substantielle Uraufführung zu erweitern; ein klares Bekenntnis auch dazu, dass die Operntradition weiter fortgeschrieben wird (und dass auch die bisherige Operngeschichte am besten aus der Gegenwart des Komponierens verstanden werden kann).
Dass es uns gelungen ist, mit Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek zwei der größten Künstlerinnen ihres Fachs fast 20 Jahre nach ihren legendären Werken Bählamms Fest und Lost Highway noch einmal zu einem Opernprojekt zusammen zu bringen, ist eine kleine Sensation: Neuwirth / Jelineks Monster’s Paradise ist ein großes Grand Guignol von bitterem Humor, das die drängendsten Themen unserer Zeit zu einer Oper verdichtet, die gegenwärtiger nicht sein könnte. Und ein Beleg dafür, dass die Strahlkraft der Staatsoper Hamburg als Uraufführungsort ungebrochen ist.
 

2. Jeder Abend ist Premiere

Die Staatsoper Hamburg ist und bleibt auch unter meiner Intendanz ein Repertoirehaus. Das heißt, gut zwei Drittel aller Aufführungen sind keine von meinem Team und mir programmierten Neuproduktionen, sondern speisen sich aus der reichen „backlist“ des Hauses. Glücklich der Intendant, der einen Strauss-Zyklus von Dimitri ­Tcherniakov von seinem Vorgänger erbt! Glücklich das Haus, das zentrale Werke der Inszenierungsgeschichte wie Peter ­Konwitschnys Lohengrin oder Ruth Berghaus’ Tristan und Isolde in seinem Stückefundus hat – und die gesamte Bandbreite der Werke Mozarts, Wagners und des italienischen Repertoires abzudecken vermag! Diese Vielfalt ist für mich aber kein Selbstzweck, sondern Selbst­verpflichtung: 
Jeder Abend ist Premiere! 
Für diesen gleichbleibenden Qualitätsanspruch bürgt ein Team hochmotivierter Spielleiter:innen, die es sich zur Aufgabe machen, die Aufführungen auf dem Energielevel einer Premierenserie zu halten; bürgt ein GMD, der sich lustvoll auch in Repertoireaufführungen jüngerer und neuerer Produktionen wirft, in Così fan tutte, in Salome, in L’elisir d’amore; bürgen auch weiterhin exzellente ­Sänger:innen-Besetzungen wie Eleonora Buratto in Verdis Il trovatore, Klaus Florian Vogt in Lohengrin oder Erwin Schrott im L’elisir, die Frische und Starqualitäten in jeden einzelnen Abend bringen.

Gleichzeitig aber ist es mir wichtig, den Begriff eines Repertoire­hauses bewusst als Speicher gelebter, auch historischer Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten zu interpretieren; also keine falsche ­Synchronizität von Repertoire und Neuproduktionen zu behaupten oder älteres Repertoire allzu selbstverständlich „wegzuspielen“.
Zur Losung „Jeder Abend ist Premiere“ gehört gerade auch, die Repertoireproduktionen, die ja aus mehreren Jahrzehnten und ­Vorgängerintendanzen stammen, in ihrer jeweils eigenen Geschichtlichkeit und mit heutigem Blick auf den ihnen spezifischen ­Ver­stehenshorizont zu betrachten.

Wir haben dazu  –  gleichsam als Pilotprojekt für einen anderen, erweiterten Umgang mit dem Repertoire  –  die Programmlinie ­FRAMING the REPERTOIRE aufgelegt, die jede Repertoireserie mit einem umfangreichen Programm kommentiert und begleitet: mit studentischen Guides, die anstelle klassischer Einführungen einen Diskurs mit dem Publikum über den Abend führen; mit Begleit­veranstaltungen und künstlerischen Interventionen, die die je­weilige Produktion neu beleuchten und kontextualisieren; mit essay­istischen, kommentierenden Einordnungen, die auch Opernregie als eine Kunstform eigener Geschichtlichkeit ernst nimmt – und bisweilen kritisch hinterfragt.

Ich würde mich freuen, wenn Sie, liebes Publikum, dieses Angebot zum gemeinsamen Gespräch und zur gemeinsamen Reflexion ­an- und wahrnehmen – und so auch mit Ihrer Neugierde auf das vermeintlich Altbekannte und mit Ihrem wachen Blick, dem wichtigsten Aspekt der Kunstrezeption, jeden Abend zur Premiere machen!
 

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Laura Schaeffer
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Laura Schaeffer

3. Ein Haus der Künsterler:innen

Als regieführender Intendant, der das Metier über mehr als 15 Jahre „bottom-up“ kennengelernt hat, ist es mir besonders wichtig, Kunst wie Betrieb von den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Künstler:innen und aller mit ihnen zusammenarbeitenden Gewerke her zu denken. 

Das absolute Herzstück des Hauses ist dabei unser 24-köpfiges Solist:innen-Ensemble, dessen Weiter- und Fortentwicklung zentraler Bestandteil meiner Arbeit als Intendant wie Regisseur am Haus sein wird. Es ist mir ein persönliches Anliegen, schon in der Premiere Die Gänsemagd mit einigen „all stars“ des Ensembles zusamme­n­­­zuarbeiten, die das Haus seit vielen Jahren prägen: mit Kammer­sängerin Hellen Kwon, Katja Pieweck und Ida Aldrian, mit Tigran Martirossian und Peter Galliard.
Und es ist mir eine ebenso große Freude, Ihnen unsere Neu­zugänge im Ensemble, teils bereits in zentralen Fachpartien, vorstellen zu können: Die neuseeländische Sopranistin Eliza Boom und der Tenor Jonah Hoskins aus den USA treten an der Staatsoper Hamburg ihr erstes Festengagement an. Der Bass Ilia Kazakov wechselt von der Wiener Staatsoper an die Alster, die gefeierte Mezzo­sopranistin ­Annika Schlicht von der Deutschen Oper Berlin und der Bariton Andrew Hamilton von der Bayerischen Staatsoper. Und die Mezzo­sopranistin Raffaella Lupinacci, ihrerseits längst ein Star des ­italienischen Fachs, heuert in Hamburg „fest“ an.

Von der kommenden Saison an gibt es auch die Möglichkeit, die Sänger:innen des Ensembles in Solokonzerten näher kennen­zulernen. Jenseits der Großen Bühne werden sich jede Saison drei oder mehr Künstler:innen in einem besonderen und sehr persönlichen Format in der opera stabile präsentieren.
In der Saison 2025/26 eröffnen der Publikumsliebling Kartal Karagedik, der neben seiner Gesangskarriere auch als Fotograf international ausstellt, sowie die neuen Ensemble­mitglieder Raffaella Lupinacci und Eliza Boom die neue Reihe. Weitere Begegnungen in den kommenden Spielzeiten werden folgen!

Wichtige Neuerungen gibt es auch beim Internationalen Opern­studio, das seit mehr als 30 Jahren ein absolutes Aushängeschild der Staatsoper Hamburg darstellt, sowie bei unserem hoch dekorierten, mehrfach als „Chor des Jahres“ ausgezeichneten Opernchor: Gregory Kunde, einer der herausragendsten Tenöre unserer Zeit, wird ab der Saison 2025/26 Schirmherr des Internationalen Opernstudios. Er ist nicht nur einer der zahlreichen internationalen 
Künstler:innen, bei denen die Mitglieder des Opernstudios Master­classes erhalten, sondern wird als exklusiver Mentor fungieren, mit dem die jungen Talente regelmäßig zu Fragen und Herausforderungen des Sänger:innenberufes in Austausch treten können.
Der Chor der Hamburgischen Staatsoper erhält eine neue Leitung. Mit der neuen Chordirektorin Alice Meregaglia übernimmt zu Beginn der Saison 2025/26 die Vertreterin einer jüngeren Generation von Chorleiter:innen den Staffelstab von ihrem langjährigen Vorgänger Eberhard Friedrich.

„Ein Haus der Künstler:innen“ heißt auch, dass wir uns ab der ­kommenden Spielzeit mit einer Reihe von Gast-Dirigent:innen ­verbinden, die am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters debütieren und hier neue Akzente setzen werden.
So leiten Karina Canellakis und Ben Glassberg erstmals Neuproduktionen im Großen Haus der Staatsoper Hamburg; in der opera stabile werden mit der auch als Solo-Pianistin bekannten Claudia Chan und der mit Karl Heinz Stockhausens Musik eng vertrauten Kathinka Pasveer zwei Künstlerinnen unterschiedlicher Generationen und Backgrounds die musikalische Leitung übernehmen.
Und mit einem speziellen Fokus auf die Dirigiertalente der Zukunft werden 2025/26 eine Reihe junger Künstler:innen in Hamburg ­debütieren, denen Omer Meir Wellber, mein Team und ich eine große Karriere zutrauen – wie Keren Kagarlitsky, die die Wieder­aufnahme-Serie der Zauberflöte übernimmt, oder Teresa Riveiro Böhm, die die Neuproduktion des Il barbiere di Siviglia leiten wird.

Als regieführender Intendant sehe ich es als meine Aufgabe an, all diese Künstler:innen und Kollektive nicht nur kuratorisch zusammenzubringen, sondern im Haus wie auch in meinen eigenen künstlerischen Arbeiten einen Spirit zu entfalten, der die Staatsoper Hamburg nach innen wie außen prägen soll: Musiktheater als Mittel der Selbst- und Welterfahrung:

ALLES, WAS OPER KANN!

In diesem Sinne verstehe ich auch das neue Programm CLICK in, das die Programmatik der früheren Sparte „jung“ in sich aufnimmt, weiterentwickelt und zugleich weit darüber hinausgeht in unserem Anspruch, uns als Staatsoper noch stärker mit der Stadtgesellschaft und „der Welt da draußen“ zu vernetzen. 

Die Oper ist tot, wo sie zum reinen Selbstzweck wird. Aber sie blüht auf, wo es ihr gelingt, die Welt zu erfassen, zu interpretieren, zu spiegeln, Empathie zu erzeugen – und damit vielleicht auch ein klein wenig zu verändern. 

Ich freue mich darauf, diesen Versuch mit Ihnen gemeinsam zu wagen!


Ihr
Tobias Kratzer