Komponistin Aziza Sadikova im Gespräch
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2nd Philharmonic Concert
Program
Alexander Borodin
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Overture to “Prince Igor”
Maurice Ravel
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“Pavane pour une infante défunte”
Maurice Ravel
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“La Valse. Poème chorégraphique”
TIME PLAY TWO:
PETER TCHAIKOVSKY / AZIZA SADIKOVA
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Symphony No. 4 in F minor op. 36
I. Andante sostenuto
II, III “Pain and Premonition”
(transcription by Aziza Sadikova, premiere)
II. Andantino in modo di canzona
III. Scherzo. Pizzicato ostinato
IV. Finale. Allegro con fuoco
The Concert
- Venue Elbphilharmonie, Grand Hall
- Duration 120 m
- Age recommendation From 10 years
“Tchaikovsky is my favorite composer, whose dramatic music has always fascinated me. I first heard his music as a child, because his works were played everywhere in the Soviet Union. I was already playing piano pieces by him at the age of six. (...) Playing in a non-musical sense? For me, that means playing inventively with the concept of time and memory, as is my task in this particular case.” Aziza Sadikova
Alexander Borodin
… wenn nicht der 25-jährige Alexander Borodin (1833-1887), in St. Petersburg erfolgreich zum Doktor in Chemie promoviert, zum weiteren Studium nach Heidelberg geschickt worden wäre? Schon bisher hochgradig für Musik begeistert – er lernte außerdem auch noch Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch –, machte er am Neckar ausgiebig Bekanntschaft mit den Werken Schumanns, Mendelssohns und Liszts, hörte fasziniert Wagners Opern am Nationaltheater Mannheim. Doch nach dem Ende des Stipendiums rief die Pflicht: Und schon vier Jahre später, 1862, wurde Borodin mit einem Lehrstuhl für Organische Chemie in St. Petersburg „belohnt“.
Zwei Seelen brannten weiterhin in seiner Brust: Chemie und Musik. Schließlich entschied er sich für beides, widmete seine freie Zeit nach der Beschäftigung mit chemischen Formeln der Erfindung musikalischer Motive. An seine Frau schrieb er: „Für andere ist die Komposition Aufgabe, Arbeit, Pflicht, bedeutet sie das ganze Leben; für mich ist sie Ruhe, Spaß, eine Laune, die mich von meinen offiziellen Pflichten als Professor, Wissenschaftler ablenkt.“ 1869 wird Borodin erstmals auf Fürst Igor, einen historischen Stoff aus dem Russland des 12. Jahrhunderts aufmerksam. Doch die Arbeit gestaltet sich mühsam; nur sehr langsam kommt Borodin voran. Einzelne Teile daraus, wie die Polowetzer Tänze, finden viel Beifall, doch die Oper insgesamt will nicht fertig werden.
Bei einem Karnevalsball 1887 – seit nunmehr 18 Jahren beschäftigt ihn bereits „Fürst Igor“ – stirbt der Komponist an einem Schlaganfall. Seine Kollegen Rimski-Korsakow und Glasunow versuchen so gut wie möglich, die Oper fertigzustellen. Und auch die Ouvertüre fehlt noch; Glasunow stellt sie aus den wichtigsten Themen der Oper zusammen, wie sie Borodin schon am Klavier vorgespielt hatte: mit zündenden Rhythmen und Melodien, dazu brillant instrumentiert. So wird sie bis heute allüberall mit großem Erfolg gespielt. Doch auch die Forschungsergebnisse des brillanten Chemieprofessors Borodin wirken noch immer nach!
Maurice Ravel
Paris und seine Salons – das gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts untrennbar zusammen. Maurice Ravels (1875-1937) „Pavane pour une infante défunte“ führt direkt in diese Welt der Pariser Salons. Und er führt uns zwei Prinzessinnen vor: eine für den Titel des Werkes erfundene und eine aus Fleisch und Blut: die Princesse Edmond de Polignac, der das Werk gewidmet ist. Legendär geworden ist diese Frau, in deren Salon ganz Paris verkehrte – eine selbstbewusste Künstlerin, die Komponist:innen nicht bloß inspirierte, sondern auch mit großzügig dotierten Aufträgen finanziell unterstützte. Jeden Freitag lud die Prinzessin in ihren Salon; erst gab es Champagner, dann Musik.
Geboren wurde sie als Winnaretta Singer, Tochter des steinreichen „Nähmaschinen-Königs“, in den USA; später siedelte die verwitwete Mutter mit den Kindern nach Paris über. Mit 22 Jahren heiratete „Winnie“ den Prinzen Edmond de Polignac aus uraltem französischen Adel. Beide waren reich, beide liebten die Musik über alles. Er komponierte leidenschaftlich gern, sie spielte hervorragend Klavier. Und nicht zu vergessen: Sie führten eine sehr unkonventionelle Ehe. Edmond de Polignac hatte eine Vorliebe für Männer, während Winnie eindeutig Frauen bevorzugte. Aber das war im Paris der damaligen Zeit, anders als in Deutschland oder England, kein Skandal, sondern höchstens ein Thema für den beliebten Gesellschaftsklatsch!
Ravel liebte diese Salons mit ihrem aristokratischen Ambiente, ihren sorgfältig gekleideten Menschen, den gepflegten Gesprächen, dem Geist vergangener Jahrhunderte, der hier noch immer nachwirkte. All dies findet sich in der aristokratischen Strenge der „Pavane pour une infante défunte“, der „Pavane für eine verstorbene Infantin“, wieder. Doch selbstverständlich ist es ein Spiel mit der Vergangenheit, wenn Ravel die Pavane, einen zeremoniellen spanischen Tanz aus früheren Jahrhunderten, ins musikalische Gewand von 1900 kleidet. Ob er dabei wirklich an eine „Infantin“, also eine spanische Prinzessin, gedacht hat, muss man bezweifeln. Überliefert ist jedenfalls sein Ausspruch, er habe den Titel vor allem wegen der klangschönen Kombination von „infante“ und „défunte“ ausgewählt!
TANZ AUF DEM VULKAN
Ein Zeitsprung in das Jahr 1919. Der Erste Weltkrieg mit seinen verheerenden Schlachten und Millionen von getöteten Soldaten ist vorbei; die Monarchien in Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland sind gestürzt. Der Salon der Princesse de Polignac glänzt weiter, aber auch hier sind die neuen Zeiten angebrochen, und andere Namen und Trends bestimmen die Programme: Erik Satie, Poulenc, Milhaud, der russische Exilant Prokofjew, Jazz und Foxtrott. Der Walzer, Inbegriff des eleganten Gesellschaftstanzes im Dreivierteltakt, ist von gestern.
Das muss auch Maurice Ravel erkennen, der durch den Krieg ebenfalls viele seiner Freunde an der Front verloren hat. „Wien und seine Walzer“ sollte ursprünglich das Ballett heißen, das Sergej Diaghilew, der Impresario der berühmten Ballets Russes, bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Nun erhält es den Namen „La Valse“ – und es wird ein Spiel mit dem Walzer unter völlig veränderten Vorzeichen! Es lohnt sich, auf Entdeckungsreise zu gehen und dieses raffinierte Puzzle-Spiel in seine Einzelteile zu zerlegen: Da sind die dumpf grummelnden Bässe des Anfangs, die eine dunkle Vorahnung des Kommenden geben. Da sind die unüberhörbaren Anklänge an Johann Strauß und seine Walzer, die aber ständig abbrechen und Stückwerk bleiben. Denn immer wieder tauchen grelle Nebenstimmen auf, die Harfe sorgt für Unruhe, und schräge Harmonien trüben den schönen Schein der Oberfläche. Hört man genau hin, wird schnell klar: Es ist ein bitterböses Spiel, ein Tanz auf dem Vulkan, der direkt in den Abgrund führt. Die Steigerungen bringen keinen Aufwind, sondern führen unheilvoll in die Tiefe. Mit immer heftigeren Drehungen steuert dieser deformierte Walzer auf die finale Katastrophe zu, brutal und unversöhnlich – ein unwiderruflicher Abschied vom Gestern, ein böses Erwachen in der Gegenwart!
PETER TSCHAIKOWSKY
In die Entstehungszeit der Symphonie Nr. 4 fallen für Peter Tschaikowsky (1840-1893) zwei Begegnungen, die von einschneidender Bedeutung für ihn waren. Im Dezember 1876 beginnt der Briefwechsel mit Nadeshda von Meck, einer überaus musikbegeisterten Frau, vermögende Witwe eines Besitzers mehrerer Eisenbahnstrecken – nicht weniger als 1204 Briefe sollten zwischen ihr und dem Komponisten bis 1890 gewechselt werden. Eine Beziehung der besonderen Art: Persönlich begegnet sind sich beide, ganz bewusst, nie; doch hat der Komponist seiner Briefpartnerin nicht nur tiefe Einblicke in seine musikalischen Überzeugungen, sondern auch in seine privatesten Gefühle erlaubt.
Parallel dazu tritt im Frühjahr 1877 überraschend die Musikstudentin Antonina Miljukowa in sein Leben, eine glühende Verehrerin (heute würde man sie eine Stalkerin nennen), die ihn mit ihren Liebesgeständnissen in die Enge treibt. Eine Verkettung von überhöhten Erwartungen, Missverständnissen und moralischen Skrupeln führt zu einer überstürzten Verlobung im Mai und der anschließenden Hochzeit. Sie stürzt den homosexuellen Künstler, der sicher vor allem aus gesellschaftlicher Rücksichtnahme dieser Verbindung zustimmt, in eine schwere psychische Krise. Auch dies ist immer wieder Thema in den Briefen an Frau von Meck.
Erstmals spricht Tschaikowsky über seine neue Symphonie am 1. (russ. Zeitrechnung)/13. Mai 1877, auch wenn Hauptthema des Briefes seine Bitte um finanzielle Unterstützung ist:
Jetzt bin ich beispielsweise völlig von einer Symphonie beansprucht, die ich bereits im Winter zu schreiben begonnen habe und ich Ihnen sehr gerne widmen möchte, da Sie, meiner Ansicht nach, in ihr einen Widerhall Ihrer geheimsten Gefühle und Gedanken finden müssten. Jede andere Arbeit wäre mir jetzt lästig, ich rede allerdings nur von einer Arbeit, die eine bestimmte Stimmung erfordert. Außerdem bin ich jetzt nervös, unruhig und gereizt, ein Zustand, der für das Komponieren nicht geeignet ist und sich ungünstig auf die Symphonie auswirkt, mit der ich nur langsam vorwärtskomme.
Ein wichtiges Thema wird die Frage der Widmung dieser Symphonie an die neue Brieffreundin. Nadeshda von Meck antwortet am 2./14. Mai:
Was die Widmung Ihrer Symphonie betrifft, so kann ich Ihnen sagen, dass Sie der einzige Mensch sind, von dem mir eine solche Widmung teuer und lieb wäre.
Am 27. Mai/8. Juni kommt er noch einmal auf die Widmung zurück, da er erfahren hat, dass Frau von Meck bisher grundsätzlich derlei Widmungen abgelehnt habe:
Für mich haben Sie eine Ausnahme gemacht, für die ich Ihnen unendlich dankbar bin. Sollte es Ihnen jedoch unangenehm sein, dass Ihr Name auf dem Titelblatt der Symphonie steht, so könnte man, falls Sie es wünschen, auch ohne ihn auskommen. Es würde ja genügen, wenn Sie und ich alleine wissen, wem die Symphonie zugeeignet ist. Bitte verfügen Sie darüber, wie es Ihnen beliebt.
Einen Monat später, am 26. Juni/8. Juli, greift Frau von Meck das Thema ein weiteres Mal auf:
Sie schrieben mir über Ihre Symphonie, Peter Iljitsch, und wollten meine Wünsche hinsichtlich der Widmung wissen. Ehe ich meinen Wunsch äußere, möchte ich eine Frage an Sie richten: Halten Sie mich für Ihren Freund? Ich, die grenzenlosen Anteil an Ihrer Arbeit nimmt… Falls Sie diese Frage mit einem Ja beantworten können, so würde ich mich sehr freuen, wenn die Widmung der Symphonie ohne Namensnennung einfach lauten könnte: ,Meinem Freunde gewidmet‘ (A mon cher ami)
Inzwischen ist es zu der Verlobung mit Antonina gekommen. Fünf Tage vor der Hochzeit, am 3./15. Juli, schildert der zutiefst verzweifelte Tschaikowsky ausführlich seine Situation, kommt aber auch noch einmal auf die Widmung zurück:
Ich kann die schrecklichen Gefühle, die mich seit diesem Abend quälen, nicht beschreiben. Das ist begreiflich. Im Alter von 37 Jahren mit einer angeborenen Abneigung gegen die Ehe nun plötzlich gewaltsam mit einer Frau, die man nicht liebt, verheiratet zu werden, ist sehr schwer. Ich muss meine ganze Lebensweise ändern…
Auf meine Symphonie schreibe ich: ,Meinem Freunde gewidmet‘, so wie Sie es vorgeschlagen haben. Das entspricht auch meinem Wunsch. Und nun leben Sie wohl, meine liebe, teure, gute Freundin. Wünschen Sie mir, angesichts der bevorstehenden Veränderung in meinem Leben, den Mut nicht zu verlieren. (…) Ich bitte Sie, anderen gegenüber die Umstände, die zu meiner Eheschließung führten, keineswegs zu erwähnen. Außer Ihnen weiß niemand etwas davon.
Die Hochzeit findet am 6./18. Juli statt, und um die Situation zu entschärfen, zieht sich der Komponist danach alleine auf das Gut seiner Schwägerin in Kamenka zurück. Erst nach und nach kehrt die Lust zu komponieren zurück. Mitte September kehrt Tschaikowsky nach Moskau zurück, wo seine junge Frau inzwischen die neue Wohnung eingerichtet hat. Doch die Lage spitzt sich dramatisch zu: Anfang Oktober erleidet der Komponist einen Nervenzusammenbruch und flieht nach St. Petersburg, danach folgt die Weiterreise mit Bruder Anatol nach Clarens an den Genfer See. In einem langen Brief schildert er Frau von Meck ungeschönt sein „Versagen“. Sie antwortet am 17./29. Oktober:
Nun weiß ich alles, was Sie durchgemacht haben, mein lieber Freund, und so leid es mir auch tut, dass Sie so gelitten haben, so freue ich mich doch über Ihren Entschluss, den entscheidenden Schritt zu tun, der unvermeidlich und der einzig richtige war. Früher erlaubte ich mir nicht, Ihnen meine aufrichtige Meinung zu sagen, weil sie nach einem Rat hätte aussehen können. Jetzt glaube ich jedoch auf Grund unserer Freundschaft berechtigt zu sein, Ihnen meine Ansicht über das Geschehene mitzuteilen.
Mitte Dezember meldet sich der Komponist aus Italien:
Dies ist der zweite Tag, an dem ich an meiner Symphonie arbeite, und zwar sehr beharrlich (4./16. Dez.) – Der erste Satz ist fast fertig. Ich kann voller Vertrauen sagen, das ist meine beste Komposition (6./18. Dez.) – Keines meiner früheren Orchesterwerke hat mich so viel Mühe gekostet, aber ich habe mich auch noch nie einer Sache mit solcher Liebe hingegeben. (…) Liebe Nadeshda Filaretowna, vielleicht irre ich mich, doch bin ich überzeugt, diese Symphonie ist kein mittelmäßiges Werk, sondern das Beste, was ich bisher komponiert habe. Wie ich mich freue, dass es unsere Symphonie ist, und dass Sie sie, wenn Sie sie eines Tages hören, wissen werden, dass ich bei jedem Takt an Sie gedacht habe. (9./21. Dez.)
Am Ende des Jahres schickt Tschaikowsky die vollständige Partitur nach Moskau; im Februar leitet Nikolai Rubinstein in Moskau die Uraufführung. Der Komponist verzichtet darauf, nach Russland zurückzukehren, aber er erwartet ungeduldig in Italien Nachrichten über die Reaktionen des Publikums. Frau von Meck zeigt sich enttäuscht von der mäßigen Qualität der Aufführung, spendet dem Werk selbst aber großes Lob. Zugleich fragt sie, ob der Symphonie ein bestimmtes Programm zugrunde liege. Tschaikowsky antwortet ausführlich am 17. Feb./1. März aus Florenz:
Die Einleitung (zum 1. Satz) ist das Samenkorn der ganzen Symphonie und zweifellos der Hauptgedanke. Das ist das Fatum, die verhängnisvolle Macht, die unser Streben nach Glück verhindert und eifersüchtig darüber wacht, dass Glück und Frieden nie vollkommen und wolkenlos werden, eine Macht, die wie ein Damoklesschwert über unserm Haupte schwebt und unsere Seele unentwegt vergiftet.
Danach scheinen zarte Träume auf, so Tschaikowsky, doch der weitere Verlauf des Satzes folge den Wechselfällen des Lebens, jenem Hin und Her zwischen „harter Wirklichkeit und flüchtigen Träumen vom Glück“. Der zweite Satz drücke „eine Trauer anderer Art aus: die Schwermut“, die einen umfängt, wenn „ein Schwarm von Erinnerungen an die Jugend“ auftauche. Der dritte Satz enthalte vor allem „kapriziöse Arabesken, unfassliche Gestalten, die von der Fantasie geschaffen, vorbeischweben…“
Die positive Auflösung der vielen düsteren Gedanken bringt, mit den Worten Tschaikowskys, dann der vierte Satz:
Wenn du in dir selbst keine Freude finden kannst, so blicke um dich. Geh ins Volk! Schau, wie es sich dem Vergnügen, der ungehemmten Freude hingibt. (…) O wie fröhlich sie sind! Beschuldige dich selbst und erkenne, dass in der Welt nicht alles Traurigkeit ist. Es gibt einfache, aber starke Freuden. Freue dich am Glück der anderen. Das Leben kann erträglich werden.