Omer Meir Wellber
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1. Blaues Konzert

The hammer without master
Under the direction of Omer Meir Wellber, the Hamburg Philharmonic State Orchestra is adding a colorful accent to the season: THE BLUE WEEK. The new festival replaces the former Academy Concerts and combines unique works and programs on the one hand and showcases the special qualities of our orchestra musicians on the other. To mark the start of the Blue Week, we are celebrating 100 years of Boulez with one of his masterpieces!

Program

György Ligeti

  • „Poème Symphonique“ for 100 metronomes

Pierre Boulez

  • “Le Marteau sans maître” for alto and 6 instruments

The Concert

  • Venue Halle 424
  • Duration 70 m
In the first edition, they make metamorphoses of all kinds audible - for example, in the first festival concert with Boulez's groundbreaking and enigmatic work Le Marteau sans maître, the instruments mutate into singing voices, while the singer repeatedly takes on a sound role without text. In a labyrinthine way, the work itself unfolds all its characteristics from a single small cell, as if from the sequence of our genetic information, from which first an embryo and then everything else emerges, without anyone arbitrarily intervening from outside. Sans maître - without a master - which means that although the composer has devised the laws of this act of creation, at a certain point the work generates itself like a living creative being, an autonomous morphogenesis.
“There is no doubt that Le Marteau sans maître is not only one of the young Frenchman's most remarkable works, it also embodies a very specific ideal of form and sound that is typical of a part of today's avant-garde. It is the ideal of a feminine sensuality dipped in vibrato jelly, a feline hyper-refinement in which the velvety paws of the alto flute caress a deep female voice, which is, however, far more frequently scratched by the spread claws of xylorimba, maracas and claves. The sadistic aspect manifests itself with a strange level-headedness, as if clad in silk gloves: the corpses are hardly mauled, but dissected with very systematic and gentle cuts - a voluptuous exercise in aestheticizing cruelty, carried out by a truly aristocratic torturer with tweezers instead of a cleaver. René Char's melancholic-sadistic-surrealistic texts are sucked by the music into a labyrinth of high-pitched lamentations, into an ever more finely branching tracery of delicate sounds that only bites gently.” György Ligeti (1959)
Dossier

Die Idee einer mechanisch tickenden Musik verfolgt mich seit meiner Kindheit; sie verbindet sich mit Fantasien eines klingenden Labyrinths und mit jenen ins Unendliche multiplizierten Bildern, die entstehen, wenn man sich in zwei einander gegenüberstehenden Spiegeln  betrachtet.

GYÖRGY LIGETI

Gemälde von Friederike Latzko
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Friederike Latzko
LIGETI, I WANT YOU

Dieses Stück für einhundert Metronome habe ich 1962, während der Arbeit an „Aventures“, entworfen. Der Verlauf des Stückes beschreibt einen einzigen großen Bogen, ein rhythmisches Diminuendo. Zu Beginn ticken so viele Metronome durcheinander, dass der Gesamtklang kontinuierlich erscheint. Mit dem Stehenbleiben der ersten Metronome verdünnt sich der statische Klang, und allmählich schälen sich komplexe Rhythmen aus dem gleichförmigen Klangband heraus. Diese rhythmischen Strukturen werden mit dem graduellen Aussetzen von immer mehr Instrumenten deutlicher: je geringer die Komplexität, desto größer die rhythmische Differenziertheit. Gegen Ende des Stückes, wenn nur noch wenige Instrumente ticken, nimmt die Differenziertheit wieder ab, das rhythmische Muster wird immer regelmäßiger, und wenn nur noch ein Metronom tickt, ist das Muster vollkommen periodisch.

„Poème Symphonique“ für hundert Metronome verlangt nach geduldigem Hören, das sich viel Zeit nimmt, um sich allmählich einzuleben in den Vorgang der graduellen Transformation rhythmischer Muster. Es ist gewissermaßen ein Stück Minimal Music avant la lettre.

Damals, zu Beginn der sechziger Jahre, war ich – ohne dass ich es gewollt hätte – Mitglied der Fluxus-Bewegung. Schon 1960 hatte mir ihr Begründer, George Maciunas, mitgeteilt, dass ich zu Fluxus gehöre, mit dem simplen Argument:„Ligeti, I want you.“ Da ich also bereits Mitglied war und außerdem befreundet mit Nam June Paik, einem weiteren bedeutenden Vertreter dieser Kunstrichtung, habe ich in den folgenden zwei Jahren mehrere Fluxus-Stücke entworfen beziehungsweise aufgeführt. Das Metronomstück sollte das letzte sein.

GYÖRGY LIGETI 

LABYRINTH DER LAVA: BOULEZ

In Pierre Boulez’ so bahnbrechendem wie rätselhaften „Le Marteau sans maître“ von 1955 mutieren die Instrumente zu Singstimmen, während die Sängerin immer wieder eine Klangrolle ohne Text einnimmt. „Sans maître“ – ohne Meister – bedeutet dabei, dass der Komponist zwar die Gesetzmäßigkeiten dieses Schöpfungsaktes erdacht hat, sich das Werk aber wie ein lebendiges Wesen aus einer einzigen kleinen Zelle auf faszinierend labyrinthische Weise selbst generiert.

Jeder der neun Teile ist anders instrumentiert: vier mit Gesang, fünf rein instrumental als Vor- und Nachspiel bzw. Kommentar zu den Gesangsstücken. Die außergewöhnliche Instrumentalbesetzung wählte Boulez bewusst, um unsere europäischen Hörwelten zu erweitern.

René Chars Gedichte sind für Boulez zugleich Zentrum wie im Verschwinden begriffen in seiner Musik: „Die Beziehungen zwischen Stimme und Instrument kehren sich nach und nach um, und zwar durch Verschwinden des Wortes. Das Gedicht bildet das ‚Zentrum‘ der Musik, aber es ist aus der Musik ‚verschwunden‘, so wie die Form eines Gegenstandes durch die Lava festgehalten wird, wenngleich der Gegenstand selbst nicht mehr vorhanden ist – oder auch so, wie die Versteinerung einen Gegenstand gleichzeitig kenntlich und unkenntlich macht." 

Die Gedichtsammlung von 1934, der Boulez die drei Gedichte entnahm, trägt denselben Titel wie die Komposition. Ihre knappen Verse wirken ebenso rätselhaft wie Boulez’ Musik und drücken Gefühle der Vergänglichkeit und Transformation aus.

Fragt man Ligeti, so umschreibt er das Stück seines Kollegen (der dieses Jahr 100 geworden wäre!) mit einer ausladenden Metapher und spricht von einem Klangideal „einer in Vibratinosgelée getauchten, femininen Sinnlichkeit, einer katzenhaften Hyperraffinesse, wobei die samtweichen Pfoten der Altflöte eine tiefe Frauenstimme streicheln, die jedoch weitaus häufiger von den gespreizten Krallen von Xylorimba, Maracas und Claves gekratzt wird“ und landet am Ende beim gleichen Bild wie für sein „Poème Symphonique“ – dem Labyrinth: „Die melancholisch-sadistisch-surrealistischen Texte René Chars werden durch die Musik in ein Labyrinth hoher Klagelaute gesogen, in ein immer feiner sich verästelndes Maßwerk graziler Klänge, das nur behutsam zubeißt.“ 
 

LE MARTEAU SANS MAÎTRE

RENÉ CHAR

L’ARTISANAT FURIEUX 
La roulotte rouge au bord du clou
Et cadavre dans le panier 
Et chevaux de labours dans le fer à cheval 
Je rêve la tête sur la pointe de mon couteau le Pérou. 

BEL ÉDIFICE ET LES PRESSENTIMENTS
J’écoute marcher dans mes jambes 
La mer morte vagues par-dessus tête
Enfant la jetée-promenade sauvage
homme l’illusion imitée  
Des yeux purs dans les bois 
Cherchent en pleurant la tête habitable. 

BOURREAUX DE SOLITUDE 
Le pas s’est éloigné le marcheur s’est tu 
Sur le cadran de l’imitation 
Le Balancier lance sa charge de granit réflexe. 

DER HAMMER OHNE MEISTER

Übersetzung: Wolfgang Fink

DAS RASENDE HANDWERK
Der rote Karren am Rand des Nagels
Und Aas im Brotkorb
Und Ackerpferde am Hufeisen
Ich sinne den Kopf auf der Spitze meines Messer Peru

SCHÖNES GEBÄUDE UND DIE VORAHNUNGEN
Ich höre wandern in meinen Beinen
Das tote Meer Wellen hoch überm Haupt.
Kind der wilde Molenweg
Mann der nachgeahmte Wahn.
Reine Augen in den Wäldern
Suchen weinend das bewohnbare Haupt.

HENKER DER EINSAMKEIT
Der Schritt hat sich entfernt der Wanderer ist verstummt.
Auf das Zifferblatt der Nachahmung
Wirft das Pendel seine Last willenlosen Granits.
 

1. Blaues Konzert

The hammer without master

  • Duration 70 m

All Dates